Berner Zeitung. Jetzt protestieren sie gegen Waffenlieferungen an die Ukraine: Die einstigen Massnahmengegner ringen um ihre gesellschaftliche Relevanz.
Im September 2021 war der Mann, der sich «Attila der Kluge» nennt, auf allen Kanälen. An seiner Seite liess sich Bundesrat Ueli Maurer in der Kutte der massnahmenkritischen Freiheitstrychler ablichten. Für die Corona-Skeptiker war es der perfekte PR-Coup.
Diese Zeiten sind vorbei. Um die Massnahmenkritiker ist es ruhig geworden, seit der Bundesrat die letzten Schutzmassnahmen vor einem Jahr aufgehoben hat.
Zwar sammeln die Organisationen Mass-voll und Freunde der Verfassung derzeit für ein drittes Referendum gegen das Covid-19-Gesetz. Sie stören sich daran, dass das Parlament Teile des Gesetzes bis ins Jahr 2024 verlängert hat. Ob das Referendum aber zustande kommt, ist fraglich. Mit einer Schlussoffensive versucht das Komitee derzeit, bis Ende März die nötigen 50’000 Unterschriften zu sammeln.
Allerdings hat sich der Fokus der Szene, die sich inzwischen als «Bürgerrechtsbewegung» bezeichnet, in jüngster Zeit verlagert. Weg von Corona, hin zur Krise, die aktuell die Schlagzeilen dominiert. Am 11. März veranstaltet die Gruppierung Mass-voll, die sich während der Pandemie im Kampf gegen die Corona-Massnahmen formiert hat, in Bern eine «Friedensdemo».
Als Redner sind unter anderen der SVP-Hardliner Andreas Glarner und der coronaskeptische Youtuber Daniel Stricker angekündigt. Auch Michael Bubendorf, ehemaliges Gesicht der Freunde der Verfassung, wird zu den Anwesenden sprechen. Ebenso wie der stramm rechtsgerichtete Radiojournalist Burkhard Müller-Ullrich und ein österreichischer Rapper aus der Querdenker-Szene.
Die Freiheitstrychler, so etwas wie die Maskottchen der Bewegung, werden aller Voraussicht nach den Umzug anführen.
Sympathien für Russland
Die Einladung zur Demo verbreitete auch «Attila der Kluge», der einen in der Szene viel beachteten Telegram-Kanal mit rund 7800 Abonnenten betreibt und sich selber als «Bürgerrechtler» und «Freiheitskämpfer» bezeichnet. Über den Messengerdienst verbreitete er Falschnachrichten zu Corona – nun äussert sich «Attila» regelmässig auch zum Krieg in der Ukraine. Für eine Stellungnahme zu diesem Artikel war er nicht erreichbar.
Attila vertritt die Ansicht, Schweizer Medien würden «Anti-Russland-Propaganda» betreiben und die Nato heize die «Kriegsstimmung» absichtlich an. Mit Vorliebe lässt er sich über den ukrainischen Präsidenten Selenski aus, den er als «koksenden Komiker» bezeichnet.
Mit seiner Ansicht ist er im Umfeld der ehemaligen Massnahmenkritiker nicht allein. So widmete der in der Szene einflussreiche Youtuber Daniel Stricker dem Ukraine-Krieg jüngst eine rund einstündige Sendung. Titel: «Die nächste inszenierte Krise – Kreml für Anfänger».
Die Freiheitstrychler sorgten am Rand der Münchner Sicherheitskonferenz für Schlagzeilen, als sie an einer Anti-Nato-Demonstration mit Ansteckbuttons in den Farben der russischen Flagge aufmarschierten. Auf den Buttons prangte der Schriftzug: «Ich bin nicht im Krieg mit Russland».
Diese teils radikalen Positionen kommen nicht bei allen in der Szene gut an. Dem Vernehmen nach stören sich gewisse Personen auch an der Tonalität einiger Redner.
Nicolas Rimoldi, der Chef von Mass-voll und Organisator der Kundgebung, bezeichnet die Trychler als «Teil der Bürgerrechtsfamilie», die als solche herzlich eingeladen seien. Er «erwartet» jedoch, dass an der Berner Demo keine Russland-Buttons zu sehen sein werden, und verweist auf den Veranstaltungsflyer. Darauf heisst es: «Nicht gegen die Ukraine, nicht gegen Russland, nicht rechts, nicht links».
Einen Widerspruch zwischen Motto und Rednerliste erkennt Rimoldi nicht. Er verweist auf die eigene Familiengeschichte: Der Grossvater sei 1956 vor den Russen aus Ungarn geflohen.
Sein Engagement für den Frieden erklärt Rimoldi damit, dass es Mass-voll immer um mehr als die Pandemie gegangen sei. Die Bewegung stehe für Bürgerrechte ein, «ob es um die Organspende, das Anti-Terror-Gesetz oder das Konzept der Schweizer Souveränität geht».
Der Sozialwissenschaftler Marko Ković beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit Bewegungen der Gegenöffentlichkeit. Dass einstige Corona-Skeptiker nun plötzlich Friedensdemonstrationen ausrichten, entspricht für ihn einer gewissen Logik. «Der gemeinsame Nenner ist in diesem Fall nicht inhaltlicher Natur, sondern hat vor allem mit dem Mindset der Akteure zu tun», sagt Ković.
Die Demonstrierenden verbinde die Überzeugung, dass die Mehrheitsmeinung falsch sei. «Sie glauben, dass die Medien und die Politik ihnen die Wahrheit vorenthalten.»
Wunsch nach «mehrsichtiger Betrachtungsweise»
Spricht man mit Personen aus der Szene, klingt es nicht so anders. Christoph Pfluger war ein Gründungsmitglied der Verfassungsfreunde, seine Zeitschrift «Zeitpunkt» war ein wichtiges Organ der Massnahmenkritiker in der Schweiz. An der Berner Demonstration wird auch er als Redner auftreten.
Auf Anfrage sagt Pfluger: «Es stört viele Menschen, dass sie gleich als Putin-Agenten hingestellt werden, sobald sie das uniforme Bild nicht teilen, das sämtliche Medien in der Ukraine-Frage transportieren.» Man vermisse die «mehrsichtige Betrachtungsweise» des Konflikts.
Für Marko Ković steht fest, dass auch an der Berner Demonstration – entgegen Rimoldis Beteuerungen – prorussische Botschaften transportiert werden. «Wer bei einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg sagt: ‹Ich bin weder für die einen noch für die anderen›, ist eben nicht neutral, sondern stützt den Aggressor, in dem Fall Russland.»
Es geht auch um Geld
Ković vermutet auch strategische Gründe hinter der Organisation der Demo. Der Event ermögliche es Mass-voll, im Gespräch zu bleiben. «Wer eine solch schlagkräftige Truppe aufgebaut hat, will seine Bedeutung als gesellschaftliche Kraft nicht verlieren.» Dies nur schon aus finanziellen Gründen: Mass-voll, aber auch die Freunde der Verfassung verfügten während der Corona-Krise über gut ausgestattete Kassen.
Ihr aktuelles Budget wollen beide Organisationen nicht detailliert offenlegen. Bekannt ist jedoch, dass die Verfassungsfreunde im Pandemiejahr 2021 allein von Mitgliedern, Spenderinnen und Sponsoren über 8,5 Millionen Franken einnahmen.
Ausgiebig war auch über die finanziellen Mittel von Mass-voll spekuliert worden, als im Sommer 2021 Tausende Plakatwände, Screens und Grossleinwände an Bahnhöfen im Violett der Bewegung erstrahlten. Nicolas Rimoldi versprach damals, die Buchhaltung künftig transparent zu machen.
Auf Anfrage sagt er nun, eine Jahresrechnung sei aus technischen Gründen noch nicht verfügbar. Allerdings lebe Mass-voll vor allem von Kleinspenden, wobei diese während der Pandemie deutlich umfangreicher ausgefallen seien als heute. Dazu kämen seit letztem Jahr Mitgliederbeiträge sowie Erlöse aus dem Onlineshop, wo unter anderem T-Shirts und Shoppingtaschen mit dem Logo der Bewegung angeboten werden – neu auch in Kombination mit einer Friedenstaube.
Für die «Friedensdemo» gibt Mass-voll gemäss eigenen Angaben rund 15’000 Franken aus, weitere 50’000 Franken sind für laufende politische Projekte budgetiert.
Pläne für Volksinitiative
Die politischen Ambitionen der Corona-Skeptiker sind mit dem Ende der Pandemiemassnahmen auch abseits des Ukraine-Themas nicht verschwunden. Neben dem neuen Covid-Referendum planen Mass-voll und die Freunde der Verfassung auch eine Volksinitiative zur Bewahrung der Schweizer Souveränität. Diese soll nach Angaben von Rimoldi Mitte April lanciert werden.
Das Volksbegehren verlangt, dass die Schweiz keine völkerrechtlichen Verpflichtungen eingehen darf, die in die Grundrechte eingreifen – explizit genannt wird ein geplanter Pandemievertrag der Weltgesundheitsorganisation.
Ein Teil der ehemaligen Corona-Szene versucht zudem, bei Legislativwahlen eine Rolle zu spielen. So erreichten ehemalige Massnahmengegner unter dem Label «Aufrecht» an den Zürcher Kantonsratswahlen im Februar einen Wähleranteil von über 2 Prozent. An der Wahlfeier war auch «Attila der Kluge» zugegen.
Marko Ković findet, aus einer demokratischen Sicht sei es zu begrüssen, wenn die Bewegung vermehrt den Weg der institutionellen Politik einschlage. Dies zwinge sie dazu, sich konstruktiv an der Debatte zu beteiligen. Ob die Bewegung mittelfristig Erfolg haben kann, hänge nicht zuletzt auch von der SVP ab, die sich bereits erfolgreich als Anti-Mainstream-Kraft positioniert habe.
Das Konkurrenzverhältnis beschäftigt offenbar auch SVP-Doyen Christoph Blocher. Auf seinem Haussender Teleblocher kommentierte er Mitte Februar das Abschneiden von «Aufrecht» in Zürich mit den Worten: «Die haben auf dem Land in gewissen Gebieten, wo wir stark sind, 3,5 Prozent gemacht – das ist viel!» Die SVP habe dadurch wertvolle Stimmen verloren.
Roland Bühlmann, der Co-Präsident der Freunde der Verfassung, ist überzeugt, dass die Bürgerrechtsbewegung eine politische Zukunft hat. Er sagt: «Beim zweiten Covid-Referendum haben fast 1,4 Millionen Menschen für uns gestimmt. Die müssen alle noch irgendwo sein.»
Bühlmann verweist darauf, dass die Freunde der Verfassung offiziell ähnlich viele Mitglieder haben wie die Grünen, rund 13’000. «Bei der Umweltbewegung dauerte es auch Jahrzehnte, bis sie sich in der institutionellen Politik etabliert hat.»
Allerdings haben zahlreiche Querelen und Spaltungen die selbst ernannte Bürgerrechtsbewegung geschwächt. Das zeigt sich deutlich bei den Freunden der Verfassung. Letztes Jahr rumpelte es im Verein gleich doppelt. Im Januar trat der Vorstand geschlossen zurück, von einem «Putschversuch» war die Rede. Im November dann trennte sich auch der neue Vorstand im Streit, fünf von acht Mitgliedern erklärten ihren Rücktritt.
Nach Angaben ehemaliger Mitglieder entzündeten sich die Streitigkeiten auch an der Frage, wie es gelingen kann, in Zukunft eine entscheidende politische Rolle zu spielen. «Attila» hat ebenfalls mit den Verfassungsfreunden gebrochen. Auf Telegram forderte er nach dem Eklat im November deren Auflösung und schrieb: «Dieser Verein ist für mich gestorben! Aus! Fertig! Die sollen sich zum Kuckuck scheren!»