FLUGBLATT / Unbekannte verdächtigen islamistische Kreise, den «Sternen» inMurzelen überfallen zu haben.
Schulze.“> may. Zusätzlich zur gewöhnlichen Post vertrug der Pöstler von Murzelen am vergangenen Montag besondere Briefcouverts – rund 130 an der Zahl, adressiert an praktisch sämtliche Einwohnerinnen und Einwohner von Murzelen (Gemeinde Wohlen). Der Inhalt der Couverts: ein Flugblatt und eine Broschüre. Das Flugblatt nimmt Bezug auf den Ãœberfall aufs Restaurant Sternen Anfang September – zwei maskierte und bewaffnete Männer hatten den Wirt niedergeschlagen und rund 30’000 Franken geraubt. Das Muster dieses «brutalen Ãœberfalls» entspreche «dem üblichen Vorgehen der Islamisten», schreiben die anonymen Absender. Man müsse sich deshalb fragen, ob es sich «bei diesen Gangstern um hier in der Schweiz geborene eingebürgerte Islamisten» handle. «Oder waren es nachahmende Kriminelle aus der Schweiz?» fragen die Unbekannten weiter. Die Broschüre soll gemäss Absender den Lesenden verdeutlichen, «welchen inneren Gefahren uns die eidgenössischen PolitikerInnen durch ihre ver-rückte Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik aussetzen». In der Broschüre landen die Verfasser eine eigentliche Breitseite gegen den Islam und behaupten unter anderem, das Einbürgern von Islamisten verstosse gegen das Antirassismusgesetz, weil der Koran und die islamischen Gesetze Juden und Christen zu Bürgern zweiter Klasse herabsetzten.
Täter sprachen Berndeutsch
Gemäss dem Sprecher der Kantonspolizei Bern sind die Ermittlungen bezüglich des Überfalls auf den «Sternen» noch nicht abgeschlossen. Bis anhin deute aber nichts auf eine Täterschaft aus islamistischen Kreisen hin. Er wies zudem darauf hin, dass die Täter Berndeutsch sprachen.
Aus der Murzeler Bevölkerung gabs entsetzte Reaktionen auf den Briefversand. Ausserdem weist Islam-Experte Reinhard Schulz die Islam-Beschimpfungen, die in der Broschüre gemacht werden, zurück.
«…ein solches Feindbild aufbauen»
FLUGBLATT / Professor Reinhard Schulze, Direktor des Instituts für Islamwissenschaften an der Universität Bern, weist die Islam-Beschimpfungen, die Unbekannte in Murzelen verbreitet haben, zurück. Die Angst, die hinter dem Flugblatt stehe, sei aber ernst zu nehmen.
* INTERVIEW: WALTER DÄPP
«Bund»: Was sagen Sie zur Islam-Schmähschrift, die in Murzelen verschickt worden ist?
REINHARD SCHULZE: Ich frage mich, woher die Verfasser dieses Pamphlets jene Informationen haben, mit denen sie nun ein solches Feindbild aufbauen.
Es werden Koranverse zitiert, die Raub und Mord rechtfertigen.
Man kann immer Zitate aus dem Zusammenhang herausreissen, um eine vorgefasste Meinung zu bestätigen. Das kann man mit dem Koran tun – wie auch mit der Bibel und mit anderen Texten.
Im Pamphlet wird behauptet, der Koran bedeute «für die Islamisten», das Wort Allahs müsse «auf der ganzen Welt zwingend verkündet und eingehalten werden – wenn nötig mit Gewalt».
Die Mehrzahl jener, die einen starken Glaubensbezug zum Koran haben, würde niemals sagen, das Wort Gottes sei auch durch irgendeine Handlung zu verkünden – oder gar durch Gewalt.
Es wird auch behauptet, «in jeder grösseren Schweizer Gemeinde» gebe es Koranschulen.
Das stimmt nicht. Koranschulen sind keine geheimen Institutionen, es sind Orte, an denen eine Religion gelehrt wird. Man wüsste es, wenn es sie hier überall gäbe.
Demokratie sei im Koran nicht vorgesehen und daher «eine Ideologie des Satans» – wird ein Islamistenführer zitiert.
Sicherlich gibt es in der islamischen Welt Radikale, die so etwas behaupten. Aber ich gehe doch davon aus, dass das eine absolute Minderheitenmeinung ist.
Es wird auch behauptet, der Koran und die islamischen Gesetze (Scharia) setzten «die Juden und Christen herab zu Bürgern zweiter Klasse».
Das muss man nun wirklich berichtigen: Schon in der alten islamischen Rechtsordnung im 8. oder 7. Jahrhundert ist religiösen Minderheiten ein Rechtsstatus überhaupt zugewiesen worden – das gab es damals ausserhalb der islamischen Welt kaum. Heute ist es so, dass das islamische Recht die öffentlichen Beziehungen gar nicht mehr reguliert (mit Ausnahme von Afghanistan, Saudiarabien und teilweise Iran). Deshalb ist auch diese Behauptung nicht haltbar. Auch dort, wo der Islam Staatsreligion ist, wird die Staatsbürgerschaft nicht über die Religion definiert.
Ein Moscheeprediger in Kairo habe, laut Pamphlet, gesagt, es könne «keinen Weltfrieden geben, bis sich die Welt nicht dem Gesetz des Islams unterworfen» habe.
Eine Äusserung, die – wenn sie wirklich gemacht worden ist – vollkommen absurd ist. Auch aus der Sicht des Islams.
Die Terrorakte in den USA sind aber Tatsache – und erhärtet ist, dass fundamentalistische islamistische Kreise dahinter stecken.
Ja – doch dies heisst nicht, dass alle islamistischen Kreise etwas damit zu tun haben. Sie sind nicht alle gewaltbereite oder gar terroristische Vereinigungen. Es sind Leute, die glauben, über den Islam eine Lösung für gesellschaftliche, soziale und politische Probleme zu finden. Unter ihnen gibt es sicherlich eine Minderheit, die das auch mit Gewalt tun will.
Zum Beispiel Osama bin Laden?
Ja. Doch er ist in der arabischen Welt erst richtig bekannt, seit er der Feind des Westens ist.
Nun ist er die Zielscheibe der USA.
Ja – der Versuch der USA, den Urheber des Terrors zu finden. Es muss ja einen Urheber geben. Doch man müsste stattdessen versuchen, die wirklichen Ursachen des Terrorismus zu bekämpfen.
Wie erklärt oder rechtfertigt der Islam Selbstmordattentate?
Aus der islamischen Religion heraus ist das nicht zu erklären. Der Opfertod, der Einsatz des eigenen Körpers als Waffe gegenüber anderen Menschen, wird von keiner Religion gedeckt, auch nicht vom Islam. Menschen, die so etwas tun, haben eine sehr verzerrte Weltordnung.
Befürchten Sie nun eine Zunahme von Hass und Fremdenfeindlichkeit gegenüber den Muslimen?
Ja. Ich glaube, dass derzeit bei vielen Menschen grosse Ängste vorhanden sind. Auch hinter solchen Pamphleten verbirgt sich eben Angst – das darf man nicht übersehen. Viele Menschen vermuten in der islamischen Kultur eine Welt, die sie bedroht. Und dieses Bedrohungsgefühl kommt auf, weil Unkenntnis herrscht.
Gerade Sie und Ihr Institut können hier ja aufklärend wirken. Ja. Und wir spüren die Ängste, diese diffuse, pauschale Wut auf den Islam, persönlich, etwa in Form anonymer Telefonanrufe: Von Menschen, die ja ihrerseits aufklärend wirken und – wie mit diesem Flugblatt – den Islam eben als den Feind der Menschheit sehen und darstellen wollen.
«Sehr bedenklich»
REAKTIONEN / Auf das Rundschreiben wird seitens der Bevölkerung entsetzt reagiert. Die Gemeindebehörde leitete das Pamphlet ans Bundesamt für Polizei weiter.
* EVELYNE MAYR
Dem «Sternen»-Wirt gehts drei Wochen, nachdem er in seinem Restaurant in Murzelen überfallen und verprügelt wurde, wieder recht gut. «Nur die Zähne muss ich noch machen lassen», sagt Jakob Stämpfli. Zwei bewaffnete Männer hatten ihm einige Zähne ausgeschlagen. Der Wirt weiss, dass im Zusammenhang mit diesem Überfall nun Unbekannte in einem Rundschreiben in Murzelen den Verdacht äussern, Islamisten seien möglicherweise die Täter. «Gäste haben mir davon erzählt.» Selber habe er das Pamphlet noch nicht gesehen, sagte er gestern. Er distanziere sich aber bereits jetzt davon, so Stämpfli.
Adressen aus Telefonbuch
Befremden hat das Rundschreiben auch bei den Adressaten ausgelöst. Mehrere Kunden hätten ihm gegenüber ihr «Entsetzen» geäussert, sagt der Murzeler Posthalter Jürg Isenschmid. Auch er sei entsetzt über das Rundschreiben. Isenschmid hatte am Montag praktisch sämtlichen Einwohnerinnen und Einwohnern von Murzelen ein solches Couvert zugestellt. «Die Verfasser haben die Adressen aus dem Telefonbuch», so Isenschmid. Die Couverts sind gemäss dem Pöstler einzeln frankiert und irgendwo in der Stadt Bern in einen Briefkasten geworfen worden. «Hätten die Verfasser ihr Schreiben als Massenversand aufgegeben, wären sie nicht anonym geblieben.» Von Berufskollegen in anderen Kantonen habe er gehört, dass auch in deren Zustellkreisen nach Vorfällen wie jenem im «Sternen» Flugblätter versandt worden seien, in denen bestimmte Personengruppen als Täterschaft verdächtigt worden seien, so Pöstler Isenschmid weiter.
Bislang keine Anzeigen
Mit dem Rundschreiben noch nicht befasst hat sich der Wohlener Gemeinderat. Gemeindepräsident Martin Gerber hat gemäss Gemeindeschreiber Thomas Peter Kenntnis davon, gesehen habe Gerber das anonyme Schreiben aber noch nicht. Wie Peter weiter sagt, hat er selbst jedoch das Bundesamt für Polizei telefonisch informiert und diesem das Rundschreiben, das er «sehr bedenklich» finde, zugestellt. «Das ist im Moment wohl alles, was wir tun können», so Peter.
Die Kantonspolizei Bern hat gestern noch nichts vom Rundschreiben gewusst; der «Bund» liess ihr eine Kopie zukommen. Anzeigen oder Hinweise aus der Bevölkerung seien in diesem Zusammenhang bis gestern nicht eingegangen, sagt Polizeisprecher Peter Abelin. Er habe das Flugblatt und die Broschüre einerseits an die Fahndung weitergeleitet, anderseits an die Untersuchungsrichterin, die sich mit dem Ãœberfall in Murzelen befasst. Ãœber die laufenden Ermittlungen bezüglich des Ãœberfalls – die Täter sind noch nicht gefasst – könne er keine Angaben machen. Nur so viel: Die Untersuchungsrichterin habe verlauten lassen, es gebe bislang keine Hinweise darauf, dass die im Rundschreiben geäusserten Verdächtigungen zutreffen. Ob die Polizei nun bezüglich Flugblatt und Pamphlet aktiv werde, könne er nicht sagen, so Abelin.
«Verpflichtet zu ermitteln»
Gemäss dem Berner Generalprokurator Markus Weber ist es wahrscheinlich, dass die Polizei oder die Untersuchungsrichterin ermitteln und prüfen wird, ob das Schreiben gegen das Antirassismusgesetz verstösst. Wie Weber sagt, handelt es sich bei der Verletzung der Antirassismus-Strafnorm um ein Offizialdelikt, das heisst, entprechende Delikte werden nicht nur auf Antrag, sondern von Amtes wegen verfolgt. «Jedes Mitglied der Strafverfolgungsbehörde ist verpflichtet zu ermitteln.» Zur Strafverfolgungsbehörde gehören laut Weber Polizei, Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter.
Bereits aktiv geworden ist die Behörde des Kantons Luzern. Laut Agenturberichten sind in Luzern am Montag ebenfalls anonyme, gegen den Islam und gegen die Araber hetzende Flugblätter verteilt worden. Die Kantonspolizei erstattete Anzeige beim Amtsstatthalter.