Braucht die Schweiz ein Antirassismusgesetz?

TagesAnzeiger

Das Schweizer Gesetz gegen Rassismus ist für Europa vorbildlich. Es in Frage zu stellen, spielt rechtspopulistischen türkischen Nationalisten in die Hände – und schadet nicht zuletzt der Türkei.

Von Tessa Hofmann*

Die Äusserungen des Schweizer Justizministers Christoph Blocher über das Antirassismusgesetz seines Landes sind bedauerlich und bedenklich. Denn der Minister erwägt die Aushöhlung oder gar Abschaffung eines Gesetzes, das derzeit im europäischen Vergleich einzigartig ist: Kein anderes Land unseres Kontinents bietet einen derart umfassenden Schutz gegen rassistische Diskriminierung in ihren unterschiedlichen Ausprägungen wie die Schweiz, die hier, wie schon früher in anderen Bereichen, vorbildliche Sensibilität in Fragen der Menschenrechte und des Minderheitenschutzes gezeigt hat.

Insofern erscheint die Frage, ob die Schweiz ein Antirassismusgesetz benötigt, überflüssig. Die Schweiz braucht es, wir alle brauchen es. Eine Aushöhlung oder Streichung würde uns in der Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit insgesamt zurückwerfen, auch über die Grenzen der Schweiz hinaus.

Den Anlass für die Äusserungen des Ministers bot die Anwendung des Antirassismusparagrafen auf eine gezielte Provokation, die 2005 von einem türkisch-nationalistischen Kreis um Dr. Dogu Perincek vorgenommen wurde. An den demonstrativen öffentlichen Leugnungen beteiligte sich 2004 auch Prof. Yusuf Halacoglu, der Vorsitzende der Türkischen Historischen Gesellschaft. Diese noch von Mustafa Kemal ins Leben gerufene Vereinigung begreift sich als Gralshüter eines nationalistischen Geschichtssbildes ohne kritischen Bezug zu problematischen Abschnitten der türkischen Nationalgeschichte wie insbesondere dem Übergang vom osmanischen Vielvölkerstaat zur republikanischen «Türkei der Türken».

Perincek und Halacoglu bestreiten heftig, dass die an den armenischen Bürgern des Osmanischen Reiches 1915 verübten Massaker und Todesmärsche einen staatlich geplanten Völkermord im Sinne der Uno-Genozidkonvention darstellen. Sie unterscheiden sich mit dieser Auffassung deutlich vom Autor derselben Konvention, Raphael Lemkin. Der jüdisch-polnische Jurist hat bei verschiedenen Anlässen betont, dass für ihn die Vernichtung der Armenier 1915 einen Prototypus von Genozid und den Auslöser seines Kampfes gegen Völkermord bildete.

Rechtsextrem und rassistisch

Mitte März diesen Jahres reiste Perincek mit Gesinnungsgenossen nach Berlin, um öffentlich Mehmet Talat zu ehren. Der als nationaler Märtyrer gefeierte Talat war als ehemaliger osmanischer Innenminister 1919 in seiner Heimat für die an den Armeniern begangenen Verbrechen in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden; ein armenischer Attentäter schoss den landesflüchtigen Schreibtischtäter 1921 in Berlin nieder und wurde von einem Geschworenengericht wegen fehlender Schuldfähigkeit freigesprochen – ein Freispruch, der Halacoglu zu der drolligen Idee bewog, in Berlin eine Wiederaufnahme des «Prozesses Talat Pascha» anzustreben.

Nach weiteren gezielten Provokationen türkischer Ultranationalisten in Lyon und Paris hat das Europäische Parlament in seinem diesjährigen Fortschrittsbericht zur Integration der Türkei die von Perincek und Genossen gegründete Operation Talat Pascha als rechtsextrem, fremdenfeindlich und rassistisch verurteilt und die Türkei aufgefordert, «dieses Komitee aufzulösen und seiner Tätigkeit ein Ende zu setzen».

In Deutschland besitzt Perincek Einreiseverbot; der Berliner Polizeipräsident liess im März die von Perinceks Genossen angemeldete Demonstration verbieten, ein regionales Oberverwaltungsgericht untersagte, dass der Völkermord an den Armeniern in Wort oder Schrift öffentlich als «Lüge» bezeichnet werden durfte – eine Auflage, über die sich Perincek prompt hinwegsetzte.

Das schweizerische Recht bietet grössere Möglichkeiten als das deutsche, gegen solche gezielten Formen der Genozidleugnung vorzugehen. Denn einzig um sie geht es hier. Die Freiheit von Meinung und Forschung steht, trotz irrtümlich oder absichtlich weit verbreiteter anderer Auslegung, nicht auf dem Spiel. Es geht vielmehr um die Bestrafung einer mutwilligen, fortgesetzten Herabwürdigung von Opfern des grössten aller Staatsverbrechen und ihrer Nachfahren, die es nicht ertragen wollen und können, dass ihre oft unter unsäglichen Qualen getöteten Vorfahren postum als Landesverräter, Russenknechte, Terroristen, Mörder der muslimischen Bevölkerung etc. verunglimpft werden.

In der Genozidforschung gilt das Leugnen von Völkermord als integraler Bestandteil dieses Verbrechens und als seine letzte Etappe. Gegen dieses Verbrechen bildet das Strafrecht gleichsam die Ultima Ratio. Schulische und mediale Erziehung zu grösserem Menschenrechtsbewusstsein bildet ein vorgeschaltetes und vorrangiges Mittel. Es ist beklagenswert, dass sich selbst Staaten mit grossen türkischstämmigen Gemeinschaften dieser Erziehungsaufgabe bisher nicht gestellt und die Informationshoheit dem türkischen Staatsnationalismus überlassen haben.

Leider verweigert die offizielle Türkei seit 1923 die Anerkennung des Völkermordes als historische Tatsache. Dieser türkische Widerstand hält nicht nur alte armenische Wunden offen, er behindert nach Überzeugung des Europäischen Parlaments auch die Demokratisierungsprozesse in der Türkei und gefährdet die Stabilität in der gesamten Region. Justizminister Blocher erweist somit letztlich der Republik Türkei einen Bärendienst, wenn er ihr das Leugnen ihres Gründungsverbrechens nachsieht.

Unser Respekt wäre ihm sofort sicher, falls er für die Abschaffung von Gesinnungsparagrafen (z. B. «Herabwürdigung des Türkentums») eingetreten wäre. Mit diesen Knebeln versuchen nationalistische türkische Juristen immer wieder, Schriftsteller wie Orhan Pamuk und Elif Safak, Journalisten wie Hrant Dink und Menschenrechtler wie Ayae und Ragip Zarakolu oder Eren Keskin mundtot zu machen, die öffentlich den Völkermord an den Armeniern erwähnt oder andere nationale Tabus verletzt haben. Aber Christoph Blocher hat sich nicht in öffentlicher Rede für die Meinungsfreiheit in der Türkei stark gemacht, sondern indirekt für die Straffreiheit türkischer Ultranationalisten, die in der Schweiz gegen geltendes Landesgesetz verstossen haben.

«Nebenbei» gefährdet Blocher den Schutz der Menschenrechte in seiner Heimat, indem er den vorbildlichen schweizerischen Antidiskriminierungsparagrafen aufopfern will, um türkische Nationalisten und notorische Provokateure europäischer Rechtssysteme straffrei ausgehen zu lassen. Und das betrifft auch uns Miteuropäer.

* Die Soziologin Tessa Hofmann arbeitet am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Sie ist Vorsitzende der Arbeitsgruppe Anerkennung – gegen Genozid, für Völkerverständigung. www.aga-online.org

Das Leugnen von Völkermord gilt als integraler Bestandteil dieses Verbrechens.