Berner Zeitung.
Meldungen zu rechtsextremen Vorfällen nehmen zu. Wie das zu erklären ist und wie die Zivilgesellschaft damit umgeht.
Ein Mann steht am Bahnhof herum. Tätowierungen bedecken seine Haut. In Frakturschrift. Hakenkreuze sind sichtbar, ebenso die schwarze Sonne – ein Symbol, das in der rechtsextremen Szene verwendet wird. Der Mann unterhält sich mit einer Gruppe von Menschen, scheint seine Freizeit am Bahnhof in der Region Bern zu verbringen.
So schildern es Sereina Gisin und Giorgio Andreoli. Sie arbeiten bei «GGG-Fon – Gemeinsam gegen Gewalt und Rassismus». Die Fachstelle informiert und berät Gemeinden, Schulen und Privatpersonen, nimmt Meldungen von rassistischen, diskriminierenden Vorfällen auf. Seit rund 20 Jahren besteht die Stelle, die von über 40 Gemeinden aus der Region Bern und Burgdorf getragen wird.
Szenen wie jene mit dem Mann am Bahnhof zogen die Aufmerksamkeit der betroffenen Gemeinde auf sich. Sie wandte sich an GGG-Fon, gemeinsam wurden Handlungsmöglichkeiten gesucht. Für die Fachstelle handelt es sich hierbei um einen Vorfall mit rechtsextremer Komponente – solche Meldungen nähmen tendenziell zu, sagt Giorgio Andreoli. Das schlägt sich auch in den Zahlen nieder: Waren es 2017 noch 17 Meldungen, verzeichnete die Stelle für 2018 32 und für 2019 57 Fälle, die explizit rechtsextreme Komponenten aufwiesen.
Meldungen verdoppeln sich
Um die Jahrtausendwende. Auf dem Rütli stören Rechtsextreme die 1.-August-Rede von Bundesrat Kaspar Villiger. Meldungen über Rechtsextreme, die Menschen mit Migrationshintergrund oder Linke angreifen, kursieren, ebenso geraten der Oberaargau und Burgdorf mit Konzerten und Versammlungen von Nazis in die Schlagzeilen. In Münchenbuchsee macht eine Gruppe von Rechtsextremen Radau am Buchsi-Märit.
Der Nazi mit Glatze, Springerstiefel, Bomberjacke ist heute weniger präsent. Für das Jahr 2018 registrierte der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) keine rechtsextreme Gewalttat, wie er im letztjährigen Sicherheitsbericht schreibt. Hingegen verdoppelten sich Meldungen von«rechtsextremen Ereignissen» – Versammlungen, Demonstrationen. «Die rechtsextreme Szene ist im Aufbruch», heisst es weiter.
Die Szene verhalte sich konspirativ. Man überlege sich genau, wie Aktionen auf die Öffentlichkeit wirkten – auf Bezüge zum Nationalsozialismus werde verzichtet. Szeneangehörige versuchten zudem Fuss in der Politik zu fassen, wie die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus schreibt. Und trotzdem: Die Szene verfüge über Waffen, übe den Umgang damit und trainiere Kampfsportarten, schreibt der NDB.
Ideologie und Provokation
GGG-Fon unterteilt Meldungen mit rechtsextremer Komponente in unterschiedliche Kategorien. In manchen Fällen liege eine klare, gefestigte Haltung vor – etwa beim Mann am Bahnhof mit den Tätowierungen. In anderen Fällen wollten Jugendliche provozieren.
So wie im Beispiel eines muslimischen Jungen. Seine Mitschüler beleidigten ihn rassistisch, zerstörten seine Brille, brachen seinen Arm. Eine Anzeige folgte, Gespräche mit der Schulleitung und Schulsozialarbeit. Die Beleidigungen gingen weiter. Im Sportunterricht bewarfen ihn die Mitschüler mit Bällen. Man sprach sich erneut aus, diesmal gemeinsam mit GGG-Fon, wobei sich zeigte: Die Mitschüler nutzten die rassistischen Wörter nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil sie den Jungen nicht mochten. Eine Erkenntnis, die die Situation entspannte.
Man wolle aus solchen Vorfällen kein Riesending machen, sagt Giorgio Andreoli. «Trotzdem müssen wir die Dinge benennen, klarmachen, was in unserer Gesellschaft keinen Platz hat.» In den Gesprächen gehe es auch darum, herauszufinden, woher solche Ansichten kommen, zu sehen, ob mehr dahintersteckt.
Giorgio Andreoli und Sereina Gisin erzählen von Fünftklässlern, die sich auf dem Handy Sprüche und Bilder hin und her schickten – mit expliziten Inhalten. Ein Junge fühlte sich dabei nicht wohl, wandte sich an die Mutter, die den Vorfall GGG-Fon meldete.
Das erfordere Mut. Auch weil sich die Eltern mehr Sorgen um allfällige strafrechtliche Konsequenzen machten als um die Inhalte. Schliesslich stellte sich heraus, dass die Bilder von älteren Jugendlichen kamen. Solche Verbindungen müsse man im Auge behalten.
Verbreitete Vorurteile
Meldungen zu rechtsextremen Vorfällen nehmen zu – das heisse nicht, dass die Gesellschaft rechter werde, schreibt Dirk Baier, Leiter Institut Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Zwar sei das Niveau fremdenfeindlicher Vorurteile zweifellos immer noch zu hoch. Das habe sowohl eine Jugendbefragung wie auch eine Erhebung bei Erwachsenen gezeigt.
Für den Anstieg der Meldungen sieht Baier andere Gründe. Verschiedene rechtsextreme Gewalttaten – Christchurch, Halle, Hanau – hätten die Aufmerksamkeit erhöht. Die Angebote von Fachstellen sind zudem vielfältig und niederschwellig. So würden auch Vorfälle gemeldet, die nicht gewalttätig sind, aber als Warnzeichen interpretiert werden.
Denkbar sei auch, dass der Rechtsextremismus sichtbarer geworden sei, so Baier weiter. Besonders mit Blick auf die sozialen Medien und deren Möglichkeiten, sich zu vernetzen und Gleichgesinnte zu finden. «Sie unterstützen die Radikalisierung einzelner, rechtsextrem denkender Menschen, die dann auch als rechtsextreme Personen in Erscheinung treten können.»
Zum Beispiel Niederscherli
Auch die klassischen Medien machen rechtsextreme Vorfälle sichtbar. Etwa im vergangenen Jahr, als Zeitungen über Mittelhäusern berichteten, wo Hakenkreuze auftauchten – an einer Scheune, auf Autos. In Niederscherli zeigten sich Eltern besorgt über Rassismus und Nazisymbolik an der Schule. Bereits seit längerer Zeit, war damals in den Medien zu lesen, soll sich der Könizer Ortsteil mit Rassismus rumschlagen.
Schulleiter Sam Meyer kündigte in den Medien an, sich dem Problem aktiv anzunehmen. Etwas mehr als ein Jahr ist seither vergangen – aktiv sei man in vielerlei Hinsicht geworden, sagt Sam Meyer. Er erzählt von der Schulklasse, die ein Flüchtlingsheim besucht hat, von einem Stand am Schulfest als Zeichen gegen Rassismus, wo sich Menschen verschiedenster Kulturen getroffen und ausgetauscht hätten.
Sich kennen lernen und verschiedene Meinungen anhören, darum gehe es, sagt Meyer. «Wenn man sich von Menschen abgrenzt, die man nicht kennt, kann man alles Mögliche in sie hineininterpretieren.» Er merke: Die Schülerinnen und Schüler seien motiviert. «Sie haben die Fühler ausgestreckt und sprechen es an, wenn etwas in eine falsche Richtung läuft.» Das Kollegium bestärke sie darin.
«Haltung zeigen ist wichtig. Diskriminierung, Rassismus, Beleidigungen oder Abwertungen akzeptieren wir nicht», sagt Meyer weiter. Das sei keine Aufgabe, die irgendwann erledigt sei. «Das wird und soll uns länger beschäftigen.» Dazu hätten Lehrer und Schüler eine Begleitgruppe gebildet, die sich regelmässig trifft. Klassenräte sind entstanden, wo Probleme angesprochen werden.
Probleme ansprechen – dafür plädieren auch Giorgio Andreoli und Sereina Gisin von GGG-Fon. Wenn man etwas beobachtet – seien es Schmierereien, diskriminierende Haltungen von Menschen –, sollte man die Informationen weitergeben, an die Schule, die Gemeinde oder die Polizei. «Behörden können nur handeln, wenn sie informiert werden.»
KASTEN:
Aktionswoche gegen Rassismus wegen Corona abgesagt
Ein Zeichen gegen Rassismus setzen. Das wollten die Stadt Bern und umliegende Gemeinden anlässlich der Aktionswoche gegen Rassismus. Vom 21. März – dem internationalen Tag gegen Rassismus – bis zum 27. März waren Ausstellungen, Theater, Vorträge zum Thema Diskriminierung und Rassismus geplant. Aufgrund des Coronavirus musste die zehnte Ausgabe der Aktionswoche abgesagt werden. Die Veranstaltungen fallen aus, die Kampagne bleibt, wie die Stadt Bern schreibt. Mit Fahnen und Plakaten will sie auf das Thema aufmerksam machen. Zusätzlich informiert die Stadt online, wie man sich in diesen Tagen gegen Rassismus engagieren kann, weitere Informationen werden auf Facebook aufgeschaltet.