Aufstehen und ein Zeichen setzen

TagesAnzeiger

Niemand hat den rechtsradikalen Mob auf dem Rütli gebremst. Unserer Gesellschaft fehlt die Zivilcourage.

Von René Lenzin, Bern

Er wolle auf Buhrufe und Beschimpfungen gar nicht reagieren, um den Rechtsradikalen nicht noch Ehre anzutun. Diese Taktik hatte sich Bundespräsident Samuel Schmid für seine 1.-August-Rede auf dem Rütli zurechtgelegt. Und diese Taktik hat er bis zum bitteren Ende durchgezogen.

Im Nachhinein gesehen war das wohl ein Fehler. Statt sich den Tiraden minutenlang schweigend auszusetzen, hätte Schmid den rechten Sprücheklopfern durchaus sagen dürfen, dass der Inhalt seiner bemerkenswerten Rede genau auf sie gemünzt war. Und er hätte den nötigen Anstand gegenüber dem Anlass und gegenüber seiner Person mit Nachdruck einfordern sollen.

Für den einsam am Rednerpult stehenden Bundespräsidenten wäre das zugegebenermassen schwierig gewesen. Denn er konnte nicht wissen, wie das Publikum reagieren würde. Trotzdem ist es erstaunlich, dass er es vorzog, beharrlich zu schweigen. Noch erstaunlicher ist allerdings, dass aus dem Publikum keine deutlichen Reaktionen gekommen sind. Dass die Mehrheit der «normalen» Besucher einfach zugeschaut hat, wie der Bundespräsident in primitivster Art und Weise niedergeschrien wird. Dass niemand demonstrativ aufgestanden ist und den Rechtsradikalen signalisiert hat: so nicht.

Diese Passivität lässt zwei Schlüsse zu: Entweder fanden die Anwesenden die Beschimpfungen eigentlich gar nicht so schlimm. Oder es fehlte ihnen schlicht der Mut zu reagieren. Vieles spricht für Letzteres, denn auch im Alltag lässt sich ein erschreckender Mangel an Zivilcourage beobachten. Wer steht schon auf, wenn Jugendliche sich in Zügen unflätig benehmen, überlaut Musik hören oder kiffen? Wer schreitet noch ein, wenn es auf der Strasse zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt? Die Angst, selber angegriffen zu werden, kann solche Hemmungen ein Stück weit erklären. Aber allzu häufig gilt diese Angst ganz einfach als Ausrede, wegschauen zu können und sich nicht exponieren zu müssen.

Wer sich ihm entgegenstellt, stachelt den Mob nur noch mehr an, heisst es oft. Das mag kurzfristig so sein. Aber langfristig wird der Mob nur richtig stark, wenn ihm niemand entschlossen entgegentritt. Das belegt die jüngere europäische Geschichte aufs Deutlichste.

«Das Rütli ist entehrt worden», soll Samuel Schmid nach der 1.- August-Feier gesagt haben. Wenn man schon in dieser pathetischen Sprache bleiben will: Hätten die Anwesenden ein deutliches Zeichen an die Adresse der Rechtsextremen gesandt, hätte die «Wiege der Eidgenossenschaft» wenigstens ein Stück ihrer Ehre zurückerhalten.