«Auf dem Rütli hat es Platz für alle»

SonntagsBlick

GROSSES INTERVIEW Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey (61) sagt, warum sie am 1. August keine Armee auf dem Rütli will, warum auch Rechtsextreme dabei sein dürfen – und warum sie am TV singt.

Frau Bundespräsidentin, hat die Schweiz keine Freunde mehr im Ausland?

Micheline Calmy-Rey: Wie kommen Sie darauf? Wir haben sehr gute Freunde!

DJ Bobo ist schon im Halbfinal des Eurovision Song Contest ausgeschieden, die Schweiz hatte keine Verbündeten.

Als Aussenministerin und Bundespräsidentin arbeite ich hart, damit wir gute Freunde haben. Darum reise ich ins Ausland. Meine Kollegen aus EU-Ländern treffen sich regelmässig. Damit man uns hört und unsere Anliegen aufnimmt, müssen wir einen besonderen Effort leisten. Darum bin ich jetzt auch hier in Portugal, das in der zweiten Hälfte dieses Jahres die EU-Präsidentschaft übernimmt.

Vielleicht hätten wir ja einfach Sie an den Contest schicken sollen – im Westschweizer Fernsehen singen Sie ein Lied von Edith Piaf.

Andere geben viel von ihrem Privatleben preis. Da bin ich sehr zurückhaltend, um meine Familie zu schützen. Indem ich ein Chanson vortrage, das mir selber gut gefällt, gebe ich auch etwas von meiner Person preis und kann mit den Menschen etwas teilen.

Und was sagen die Menschen?

Eine negative Reaktion kommt auf neun positive. Manche Leute fragen sogar nach einer CD von mir.

Und, wird es eine geben?

Mit diesem Fernsehauftritt ist meine Karriere als Sängerin beendet. Ich hatte aber viel Freude daran.

Kritiker sagen: ein Wahlkampf-Gag.

Ach, wissen Sie, Kritiker haben immer etwas zu sagen. Ich singe einfach gern.

Am 1. August werden Sie auf dem Rütli nicht singen, sondern eine Rede halten. Die Kantone haben sich jetzt doch noch auf die Durchführung der Feier geeinigt.

Ich freue mich sehr darauf! Das Rütli bedeutet mir viel: Es steht für die Gründung der Schweiz, für die Solidarität zwischen den Kantonen, für unsere direkte Demokratie, für Offenheit.

Soll der Bund die Sicherheitskosten übernehmen?

Wir brauchen kein riesiges Sicherheitsdispositiv und keine Armee auf dem Rütli. Das könnte bloss provozieren und Familien mit Kindern davon abhalten, aufs Rütli zu kommen.

Und wer soll die Rechtsextremen fernhalten?

Auf dem Rütli hat es Platz für alle, wir dürfen es niemandem überlassen und niemanden fernhalten. Ich will nicht, dass wir eine ganze Armee brauchen, um den 1. August zu feiern.

2005 wurde Samuel Schmid niedergeschrien.

Das Rütli gehört uns allen. Es sollen möglichst viele Leute aufs Rütli kommen und friedlich feiern. Im Alltag leben wir Bundesräte ja auch wie normale Leute ohne Bodyguards, und es funktioniert bestens. Das ist unsere Tradition, die Schweiz ist ein sicheres Land. Warum soll das am Nationalfeiertag anders sein?

Wir führen dieses Interview in Portugal. Wie ist die Stimmung im Ausland gegenüber der Schweiz?

Gut, wir haben eine hohe Glaubwürdigkeit – was wir sagen, tun wir auch. Die Schweiz mit ihrer uralten direkten Demokratie ist eine Form, die andere Staatschefs interessiert. Sie wollen auch wissen, wie wir es schaffen, Menschen unterschiedlichster Kulturen und Sprachen zu vereinen. Damit sind nämlich immer mehr Staaten konfrontiert.

Die EU will über unser Steuersystem verhandeln. Müssen wir da nachgeben?

Da besteht in der Tat ein gewisser Druck, den wir nicht ignorieren können. Kollege Merz hat darauf hingewiesen, dass wir selber dafür sorgen müssen, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, ohne Druck von aussen.

Er hat signalisiert, dass wir verhandeln müssen.

Unsere Position ist klar. Die EU wirft uns vor, wir hätten das Freihandelsabkommen von 1972 verletzt. Das ist nicht so, und aus diesem Grund sind wir auch nicht bereit zu verhandeln.

Das ist ein juristisches Argument. Ist die EU nicht schlicht zu mächtig, als dass sich die Schweiz Verhandlungen entziehen kann?

Genau darum werden wir ganz genau hinsehen, wie sich die EU-Kommission nach Erhalt eines Verhandlungsmandats an die Schweiz wendet.

Das heisst im Klartext?

Ich habe Klartext gesprochen!

Verhandeln oder nicht?

Auf der Basis des Freihandelsabkommens gibt es nichts zu verhandeln, denn wir haben dieses Abkommen nicht verletzt.

Als Bundespräsidentin reisen Sie durchs Land, um Menschen zu treffen. Was sind deren grösste Sorgen?

Die Kluft zwischen Arm und Reich – auf der einen Seite Riesengewinne und Millionensaläre, auf der anderen Seite kleine, stagnierende Einkommen, die kaum reichen zum Leben. Und was mir auch viele Menschen sagen: die Klima-Erwärmung.

Das macht Ihnen auch Sorgen?

Ja, denn es ist offensichtlich, dass etwas passiert: Der Rhonegletscher etwa geht jedes Jahr zurück. Ich will aber keine Schweiz ohne Gletscher.

Müssten wir Schweizer mehr machen?

Der Bundesrat wird noch in diesem Jahr über Massnahmen sprechen.

Viele sind auch besorgt wegen der Angriffe von Finanzinvestoren auf unsere Traditionsfirmen.

Ich verstehe die Empörung. Es gibt Investoren, die gezielt Jagd machen auf Schweizer Firmen. Das führt dann dazu, dass die grossen Aktionäre das Sagen haben und die kleinen das Nachsehen. Dabei wäre es zentral, dass die Globalisierung in geordneten Bahnen verläuft, dass Übernahmen von Unternehmen transparent erfolgen. Da gibt es Handlungsbedarf.

Und zwar?

Man muss das Gesetz anpassen, damit ein Investor nicht quasi unbemerkt die Kontrolle übernehmen kann. Das Parlament wird vor den Sommerferien darüber diskutieren, die Meldepflicht von fünf auf drei Prozent zu reduzieren.

Was fragen die Menschen Sie sonst noch?

Die schwierigste Frage kam von einem jungen Mädchen: Was macht eigentlich die Präsidentin der Schweiz?

Was haben Sie da geantwortet?

Ich arbeite, damit es dir, deinen Eltern und deinen Freunden gut geht, damit ihr genug zu essen habt, damit ihr auch weiterhin in Wohlstand und Sicherheit leben könnt. Gar nicht einfach, einem Kind den Job einer Bundespräsidentin zu erklären.

Fragen Ihre Enkelkinder auch, was Grandmaman macht?

Sicher, auch sie wollen eine Antwort von mir.

Haben Sie noch Zeit für Ihre Familie?

Leider viel zu wenig. Wenn ich Auftritte im Inland habe, begleitet mich manchmal mein Mann.

Als Bundespräsidentin sind Sie zusätzlich belastet …

Ja, ja, ich altere (lacht). Nicht im Kopf, aber physisch.

Und es kommt noch einiges auf Sie zu: Politologen sagen, dass die Bundesräte und die Bundespräsidentin im Wahlkampf im Zentrum stehen werden wie noch nie.

Es stehen schon viele im Zentrum, ich stehe links!

Links und im Scheinwerferlicht.

Das macht mir keine Sorgen. Klar, die Politik wird immer mehr personifiziert. Das ist halt eine Entwicklung, der Druck auf die Bundesräte steigt. Als Bundespräsidentin versuche ich genau das Gegenteil: Zeit und Ruhe zu schaffen fürs Gremium.

Persönlich

Micheline Calmy-Rey kam am 8. Juli 1945 zur Welt. Nach der Handelsmatura zog sie vom Wallis nach Genf, um Politikwissenschaften zu studieren. Mit 21 Jahren heiratete sie; mit Gatte André (65) führte sie einen Buchvertrieb. 1997 wurde sie Genfer Finanzdirektorin, im Dezember 2002 SP-Bundesrätin und Chefin des Aussendepartements EDA. Calmy-Rey hat zwei Kinder, Alexandra (38) und Rafaël (33).

Wie die Zeit vergeht

1987: Micheline Calmy-Rey ist Präsidentin der SP Genf.

1997: Am 15. November wird sie in die Genfer Kantonsregierung gewählt.

2002: Wahl in den Bundesrat am 4. Dezember.