Gastkommentar. Neue Zürcher Zeitung. Wir haben einen Punkt erreicht, wo wir grundlegend darüber sprechen müssen, was unsere Gesellschaft zusammenhält.
Antisemitismus ist wieder allgegenwärtig. Europaweit sind die Zeitungen voll von Berichten über antisemitische Vorfälle. Wir stellen in Europa ganz allgemein einen verstärkten Antisemitismus fest. Es braucht aber eine gründliche Lageeinschätzung, die ohne Panikmache geschieht. Europa ist mancherorts tatsächlich ein gefährliches Pflaster für Juden geworden – und das ist schlimm, denn es dreht sich hier um Menschen, die sich in ihrer Heimat nicht mehr sicher fühlen.
In Berlin ist ein Kippaträger auf offener Strasse angegriffen und mit einem Gürtel geschlagen worden. Der mutmassliche Angreifer ist ein Jugendlicher, der als Flüchtling nach Deutschland gekommen ist.
Der Aufschrei war gross. Das Skandalöse war nicht nur, dass so etwas in Deutschland wieder passieren kann, sondern auch, dass der Antisemitismus offenbar teilweise importiert wurde. Ich meine, man darf sicherlich darüber sprechen, ob Antisemitismus unter Flüchtlingen verbreitet ist.
Werden in Genf, Zürich, Basel oder in anderen Städten Juden auf der Strasse angegangen? Hat das zugenommen, und wer steckt dahinter?
Fakt ist aber auch, dass viele Juden deutschlandweit schon seit Jahren und lange vor der Flüchtlingswelle auf das Tragen der Kippa verzichteten oder sie unter einer Mütze verbargen.
In Frankreich ist das längst keine Debatte mehr, die Situation scheint ausser Kontrolle geraten zu sein. Übergriffe auf Juden, ob verbal oder physisch, sind auf der Strasse längst Alltag. Insbesondere der Mord an einer Holocaust-Überlebenden zeigt die Dimension des Antisemitismus in Frankreich. Das Erschreckende hier ist die beinah resignierte Tonalität, mit der über die Situation in Frankreich berichtet wird, als gäbe es kein Zurück mehr und als hätte die Gesellschaft keine Mittel mehr, um dem Hass und der Gewalt zu begegnen.
Angetrieben durch die Berichterstattung aus Deutschland und Frankreich, gerät auch die Situation in der Schweiz in den Blick. Werden in Genf, Zürich, Basel oder in anderen Städten Juden auf der Strasse angegangen? Hat das zugenommen, und wer steckt dahinter?
Die Zahl der Übergriffe hält sich im europäischen Vergleich in Grenzen. Trotzdem verzichten viele Juden auch in diesem Land auf das Tragen der Kippa. Die Erfahrung zeigt, dass die Mehrzahl der Fälle keinem spezifischen ethnischen oder religiösen Hintergrund zugeordnet werden kann.
Die kürzlich erfolgte Verurteilung eines Neonazis, der in Zürich einen orthodoxen Juden angegriffen hat, zeigt auch, dass es Antisemitismus in seiner ordinären Form noch immer gibt.
Es dient aber niemandem, am wenigsten uns Juden selbst, den Antisemitismus übertrieben darzustellen. Und es dient niemandem, am wenigsten der Gesellschaft, das Antisemitismusproblem herunterzuspielen. Es gibt Antisemitismus, auch hier in der Schweiz, auf der Strasse und in unserem Alltag. Vorurteile, Unverständnis, Angst, Intoleranz bis hin zu Hass gegen alles, was nicht ins eigene Weltbild passt, nehmen zu. Es scheint für viele salonfähig geworden zu sein, sich ganz offen abfällig über andere, manchmal auch drohend, zu äussern. Das betrifft Juden, aber auch viele andere Minderheiten.
Ein echter Dialog muss weiter gehen, er muss auch das Trennende ansprechen. Es ist eine Auseinandersetzung, mit dem Gegenüber und sich selbst.
Wir haben einen Punkt erreicht, wo wir wieder ganz grundlegend darüber sprechen müssen, was diese Gesellschaft zusammenhält. Diese Gesellschaft ist vielfältig, ob das nun Meinungen, Lebensentwürfe oder die Religion betrifft. Wir sind frei darin, wie wir uns entfalten wollen. Dieses Land ist ein Land der Minderheiten! Fast jeder von uns gehört einer an. Das funktioniert aber nur, wenn wir beachten, dass wir nicht allein diese Gesellschaft formen, sondern mit anderen zusammen, und das ist nicht verhandelbar. Wir müssen uns verstärkt offen und ehrlich einem Dialog stellen.
Damit meine ich nicht eine unkritische Einigkeit oder die Betonung des Gemeinsamen oder Verbindenden. Ein echter Dialog muss weiter gehen, er muss auch das Trennende ansprechen. Es ist eine Auseinandersetzung, mit dem Gegenüber und sich selbst. Nur im direkten Gespräch kann eruiert werden, wie das Gegenüber denkt und fühlt. Gleichzeitig zwingt uns ein Dialog auch, uns über unsere eigene Haltung bewusst zu werden und uns vielleicht sogar zu hinterfragen. Das gilt für uns Juden und alle anderen auch.
Viele institutionalisierte Dialoge und vor allem auch der interreligiöse Dialog zeichnen sich dadurch aus, dass sich die Beteiligten sehr nett, offen und kompromissfreudig begegnen. Das ist auch gut, und diese Dialoge sollen auch unbedingt weitergeführt werden. Es ist aber nicht genug, denn bei der Bevölkerung, auf der Strasse, bei der Arbeit oder in der Schule kommt dieser Dialog nicht an. Wir müssen dort Austausch und Auseinandersetzung im Dialog fördern, wo sich das Leben wirklich abspielt. Darum vergeben die beiden Dachverbände der Schweizer Juden einen Dialogpreis an Menschen, die sich genau dort engagieren und den breiten Dialog mit allen vorantreiben.
Herbert Winter ist Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG).