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Ist Gewalt ein legitimes Mittel des Widerstands? Regisseurin Julia von Heinz ringt mit dieser Frage – nicht nur im Kino.
Selim Petersen
Einfach hat sie es sich noch nie gemacht. Aus Angst vor fremdenfeindlichen Tendenzen bekannte die Berlinerin Julia von Heinz bereits als Teenager politisch Farbe. Sie schloss sich im Deutschland der 1990er-Jahre einer antifaschistischen Gruppierung an, um Neonazis die Stirn zu bieten.
Aus der Aktivistin ist inzwischen eine angesehene Filmemacherin geworden. Ihr Langfilmdebüt «Was am Ende zählt» über die ungewollte Schwangerschaft einer Jugendlichen wurde 2007 auf der Berlinale gefeiert. Nach kommerziell erfolgreichen Auftragsarbeiten wie der Bestseller-Verfilmung «Ich bin dann mal weg» folgt nun ihr zweites Herzensprojekt.
So zwiespältig wie sein Titel
Mit dem Antifa-Drama «Und morgen die ganze Welt» verarbeitet die 44-Jährige all ihre Erfahrungen, die sie als blutjunge linke Aktivistin gesammelt hat. Nicht nur die erfreulichen, sondern auch die schmerzlichen.
Eine Zwiespältigkeit, die schon im Titel anklingt. Schliesslich zitiert dieser ein berüchtigtes Lied der Hitlerjugend: «Heute gehört uns Deutschland. Und morgen die ganze Welt.»
In diesen magischen fünf Wörtern stecke aber auch viel positive Energie, findet Julia von Heinz im Interview. Weil er die Aufbruchsdynamik vieler Jugendbewegungen widerspiegle: «Meine Heldin Luisa ist ebenfalls Teil einer dynamischen Gruppe. So ist dieser Titel auf eine Art zwiespältig, die ich zu meinem Film passend empfinde.»
Autobiografische Innenwelt
Die Handlung des Films ist rasch erzählt: Jura-Studentin Luisa unterwandert gemeinsam mit ihren Antifa-Genossen Alfa und Lenor eine Neonazi-Gruppe. Dabei müssen sich die drei immer wieder die Frage stellen, wie weit sie dabei gehen sollen und wollen.
Anders als der Plot, der für die Produktion des Spielfilms stark zugespitzt wurde, sind die Gefühle und Motivationen der Heldin zu 100% autobiografisch.
Julia von Heinz, die das Skript mit ihrem Mann verfasst hat, erinnert sich an die eigene Vergangenheit, wie sie im Gespräch betont: «An die Gruppendynamik, die zu Loyalitätskonflikten führte, sowie die Erotik. Und an den Zwiespalt: Was läuft hier in der Gruppe schief? All diese Gefühle habe ich selbst erlebt.»
Romantik trotz Macho-Strukturen
Julia von Heinz schreckt nicht davor zurück, die Schattenseiten der Antifa aufzuzeigen. Besonders deren gewaltbereite Führerfiguren kriegen ihr Fett weg: «Alfa heisst nicht umsonst Alfa. Das ist mein kleiner Seitenhieb auf starre patriarchale und hierarchische Strukturen innerhalb der Antifa.»
Andererseits ist es genau dieser Alfa, in den sich Protagonistin Luisa schliesslich verliebt. Einen wilden Draufgänger, der nur darauf brennt, bei einer Aktion gegen Nazis «ein Arschloch mal drei Tage ins Krankenhaus zu schicken».
Luisa findet Alfas Attitüde zwar unvernünftig, aber halt auch irgendwie sexy. Das wäre nicht weiter problematisch, wenn der Film als Ganzes klar gegen Gewalt Position beziehen würde. Stattdessen folgt er über weite Strecken Alfas Prämisse: «Gewaltfreier Widerstand gegen Nazis? Das ist absoluter Schwachsinn!»
Ungelöste Grundsatzfrage
Kann Gewalt je ein legitimes Mittel des Widerstands sein? «Und morgen die ganze Welt» weigert sich, diese Kernfrage schlüssig zu beantworten. «Ich gebe diese Frage an die Zuschauer zurück, ohne selber eine Antwort zu haben», gibt Julia von Heinz unumwunden zu.
Das ist zwar ehrlich, aber auch unbefriedigend. Weil es von einer Unentschlossenheit zeugt, die dem Film schlussendlich nicht nur moralisch, sondern auch dramaturgisch schadet.
Kinostart: 29. Oktober 2020