NZZ am Sonntag. In Spitälern und Pflegeheimen erfahren ausländische Mitarbeitende regelmässig Rassismus von Patienten.
Für Antoine* ist die Arbeit als Pflegekraft im Altersheim eine Aufgabe mit Sinnhaftigkeit. Der Westafrikaner kommt 2011 als Koch in die Schweiz. Hier lässt er sich zur Pflegekraft ausbilden und arbeitet ab 2016 in einer Einrichtung im Berner Seeland. Die Arbeit bereitet ihm Freude. Bis im Sommer 2017. Ein Ehepaar kommt ins Heim. Die Frau leidet an Demenz, ihr Mann begleitet sie. Als Antoine ihr Zimmer betritt, sagt der Mann: «Meine Frau will nicht, dass ihr ein Neger den Blutdruck misst.» Er habe nicht gewusst, wie ihm geschehe, erzählt Antoine. Täglich wäscht er Senioren, misst ihren Blutdruck, führt sie spazieren. Worte wie diese hat er noch nie gehört.
Die Vorfälle mit dem Paar häufen sich. Antoine versucht sie zu ignorieren. Er sagt den Eheleuten, er sei lediglich für ihre Pflege zuständig. Doch irgendwann wimmert die Frau, wenn Antoine sich ihr nähert. Ihr Mann beschimpft ihn regelmässig und beschwert sich bei der Direktion. Antoine solle das Vorgefallene nicht so ernst nehmen, habe es von oben geheissen, sagt er. Er fühlt sich nicht gehört, es geht ihm psychisch schlecht. Er wird krankgeschrieben, erscheint nicht zu einem Termin bei der Direktion. Als er an die Arbeit zurückkehrt, erhält er im Januar die Kündigung. Seither habe er versucht, alles zu vergessen, sagt Antoine. Aber nach dem Fall Floyd in den USA wolle er nun gegen Rassismus kämpfen.
Wie Antoine betrifft Rassismus viele Berufstätige im Gesundheitswesen, in Spitälern und der Langzeitpflege. Im Gespräch berichten sie von Rassismus: Frauen und Männer mit afrikanischen Wurzeln werden von Patienten als «Neger» beschimpft, Vietnamesen als «dreckige Chinesen aus Wuhan», Muslimas mit Kopftuch als «Terroristinnen», Italiener werden wegen des Coronavirus angefeindet. Patienten wollten nicht von ihnen behandelt werden. «Hätte ich gewusst, dass hier ein Schwarzer arbeitet, hätte ich die Klinik gemieden», wird ein Privatpatient zitiert. Oder: «Die Negerin müssen Sie mir nicht mehr vorbeischicken», so meldete sich eine Seniorin bei der Spitex.
Strukturelle Probleme
Alma Wiecken kennt solche Fälle. Sie ist Geschäftsführerin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. Auf ihrem Schreibtisch landen regelmässig Fälle, bei denen Personen in Gesundheitsberufen Opfer von Rassismus werden. Doch sie repräsentieren nur die Spitze des Eisberges. «Viele Angestellte schlucken die rassistischen Beleidigungen von Patienten jahrelang», sagt Wiecken. Häufig seien Menschen mit dunkler Hautfarbe Rassismus ausgesetzt. Aber auch zahlreiche Personen aus anderen Herkunftsländern wie etwa aus Osteuropa seien Anfeindungen ausgesetzt.
Die meisten Betroffenen wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Sie fühlen sich ihren Vorgesetzten gegenüber oft willkürlichen Entscheidungen ausgesetzt. Das zeigen Gespräche. «In den Spitälern fehlt es an standardisierten Prozessen bei Rassismus», sagt eine Pflegefachfrau mit afroamerikanischen Wurzeln. Sie arbeitet in einem grossen Zürcher Spital. Dort gebe es im Intranet keinen einzigen Eintrag zum Umgang mit Rassismus.
«Alle sprechen immer nur von Einzelfällen, damit man nicht systematisch hinschauen muss», sagt Roland Brunner, Regionalsekretär bei der Gewerkschaft VPOD. Dabei handle es sich um ein strukturelles Problem. «Das Machtgefälle und die Hierarchien im Gesundheitswesen zementieren die Mechanismen, die Rassismus und Diskriminierung ermöglichen.» Es fehle an einheitlichen, institutionalisierten Strukturen zum Schutz der Betroffenen. Gerade in der Hierarchie schwach gestellte Personen getrauten sich kaum, die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers einzufordern.
Wie Unispitäler und grössere Pflegeinstitutionen mitteilen, gebe es Anlaufstellen inner- oder ausserhalb der Institutionen. Das Unispital Lausanne führt ein elektronisches Meldesystem. Die Fallzahlen seien gering. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass es systematisch zu weit mehr Vorfällen komme, heisst es auf Anfrage. Auch das Unispital Basel berichtet von Fällen, nennt jedoch keine Zahlen. Das Unispital Zürich verweist auf seine im Mai gegründete Fachstelle für Diversität. Die Alters- und Pflegeheime melden ebenfalls keine Zahlen. Beim schweizweit grössten Heimbetreiber Tertianum gibt es eine interne Anlaufstelle. Wie Heime und Spitex-Dienste sagen, biete man den Mitarbeitenden gerade im Umgang mit Demenzkranken Kurse an. Beleidigungen spezifischer Art seien dort oft auch Teil des Krankheitsbildes.
Mehr Aufklärung nötig
Trotzdem fühlen sich Betroffene alleingelassen. «Es fehlt an Untersuchungen und der dringend benötigten Aufklärungsarbeit – wie sie beim Thema Sexismus geleistet wurde», sagt Pierre-André Wagner, Leiter des Rechtsdienstes beim Schweizer Berufsverband des Pflegefachpersonals (SBK). «Gegen sexuelle Belästigung gibt es heute einen klaren Leitfaden. Diesen brauchen wir auch im Umgang mit Rassismus.» Dafür will der SBK nun mit dem Verband der Schweizerischen Assistenz- und Oberärzte (VSAO) zusammenspannen.
Der Ärzteverband untersuchte 2020 zum ersten Mal Diskriminierungsfälle. Jeder Zweite gab an, Diskriminierung miterlebt oder selbst erfahren zu haben. Während Frauen vorwiegend wegen Schwangerschaft und Elternschaft benachteiligt werden, nannten betroffene Männer am häufigsten ihren Migrationshintergrund. «Unser Vorstand hat diese Woche beschlossen, dass wir mit weiteren Partnern mehr gegen Diskriminierung unternehmen wollen», sagt Marcel Marti, stellvertretender Geschäftsführer des VSAO. Zusammen mit dem SBK und weiteren Partnern berate man nun gemeinsame Massnahmen.
«Alle sprechen immer nur von Einzelfällen, damit man nicht systematisch hinschauen muss.»
*Name von Redaktion geändert
Parlament: Bundesrat soll USA rügen
Zur Polizeigewalt in den USA und zum Tod von George Floyd soll sich auch der Bundesrat äussern. Dies fordern Nationalräte von SP und Grünen in der Fragestunde, die am Montag stattfindet. So fragt etwa SP-Mann Cédric Wermuth, ob der Bundesrat der US-Regierung seine Besorgnis über die Lage der Bürgerrechte in den USA mitgeteilt habe. Nicolas Walder (Grüne) meint, die Schweiz solle die Tat der Polizisten in Minneapolis verurteilen. Zudem will er einen Bericht darüber, wie die hiesige Polizei diskriminierende Personenkontrollen verhindert. Zufälligerweise wird der Nationalrat selber am Dienstag über die gleiche Forderung befinden. Der Bundesrat erachtet einen solchen Bericht als unnötig, da die Polizei genügend sensibilisiert sei. (dli.)
Proteste. Eine neue Demo-Welle erfasst die Schweiz
Sie ist eine von mehreren Tausend Personen, die an diesem heissen Samstagnachmittag in Zürich auf die Strasse gehen: eine junge Doktorandin mit dunkler Haut und schwarzen Locken. «Black lives matter!», schreit sie in die Sommerluft. Warum sie hier sei? «Weil ich Rassismus immer wieder an meiner eigenen Haut spüre», sagt sie. «Und weil mein Bruder schon hören musste, dass sich Kunden im Laden nicht von ihm bedienen lassen wollen.»
Ein Hauswart, der vor acht Jahren aus einem afrikanischen Land nach Zürich kam, erzählt von Rassismus, den er am Arbeitsplatz erfährt. Ein Rapper aus dem Seefeld schildert, wie sich einst sein Vater am See vor der Polizei und seiner Familie ausziehen musste. «Ich war damals vier», sagt der gross gewachsene Zürcher.
Doch die Demo ist mehr als ein Aufstand der direkt Betroffenen. Die Kleidung fast aller Demonstranten ist zwar schwarz, die Hautfarbe der Mehrheit hingegen weiss. Da ist die amerikanische Familie, die mit ihren Kindern teilnimmt, weil Rassismus ein weltweites Problem sei. Da ist aber auch die Gymnasiastin aus Wil (SG), die über die Plattform Tiktok vom gewaltsamen Tod von George Floyd bei einer Polizeikontrolle hörte. «Ich musste weinen, als ich die Bilder sah», sagt sie. «Ich bin hier, weil wir alle Mitverantwortung tragen für Rassismus», sagt eine 22-Jährige und reckt die Faust in die Luft. «Wir sind Teil eines Systems, das solches Unrecht ermöglicht», sagt ein Marketing-Fachmann, der am Rande mitläuft.
«No justice, no peace!», skandiert die Menge. Es tönt ein wenig wie vor einigen Monaten, als eine riesige Menge durch Zürich schritt und «Climate justice now!» skandierte. Die schwarzen Fäuste, die mancherorts auf Kartons zu sehen sind, erinnern an die lila Fäuste des Frauenstreiks vor einem Jahr. Nach Klima- und Frauenstreiks sind die Antirassismus-Demos nun bereits die dritte Bewegung, die landesweit die vorab junge, weibliche und linke Bevölkerung mobilisieren.
Die Schnittmenge bei den Teilnehmenden sei gross, sagt eine der Aktivistinnen an der Demo. «Aber es sind auch viele neue Gesichter dabei.» Die Jungsozialistin verteilt Flugblätter gegen eine Stadtzürcher SVP-Initiative. Auch Logos der Bewegung für den Sozialismus sind zu sehen, die bereits bei «Friday for Future» mitmischte.
Nach dem Corona-Lockdown waren die Demonstrationen in Zürich und weiteren Schweizer Städten die erste Möglichkeit, sich mit der Masse zu bewegen. Am Ende herrschte in Zürich das erste Mal seit Monaten Partystimmung auf dem Sechseläutenplatz. «Wir sind eine Generation, die ihre Stimme erhebt», sagt die dunkelhäutige Doktorandin. «Ich hoffe sehr, dass das nicht bloss eine Modeerscheinung ist, die wieder vergeht.» Der junge Rapper hingegen ist pessimistisch: «Viele sind doch nur hier, um sich ein cooles Instagram-Bild zu holen.» Am Ende seien die Farbigen wieder auf sich gestellt.