Das Kulturmagazin. 2018 warnte der Reiseführer Lonely Planet vor verbreitetem Racial Profiling durch die Polizei in der Schweiz. Der Kommunikationschef von Schweiz Tourismus sagte daraufhin, es gebe in der Schweiz kein Racial Profiling. Und wie sieht es in der Tourismusstadt Luzern aus? Drei Betroffene erzählen.
Musa Adesina* ist lieber im Auto unterwegs als zu Fuss. Nicht weil es bequemer wäre, sondern weil er Situationen wie diese vermeiden will: Es ist Abend, Adesina hat sich mit einem Freund in einer Bar getroffen. Als sie das Lokal verlassen und sich auf den Heimweg machen, fährt ein Polizeiauto vor. Die Beamten steigen aus, verlangen, den Ausweis der beiden zu sehen. Auf die Frage warum, erhält Adesina keine Antwort. Er weigert sich. Dann nennt einer der Polizisten ihn *N-Wort* – und nimmt die beiden mit auf den Posten.
Situationen wie diese hat Adesina immer wieder erlebt, seit er vor 25 Jahren nach Luzern gezogen ist: Racial Profiling, rassistisch motivierte Polizeikontrollen, bei denen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder äusserlicher Merkmale kontrolliert werden. Es ist eine der sichtbarsten Formen von institutionellem Rassismus, schreiben die Autor:innen im Buch «Racial Profiling». Weil es in der Öffentlichkeit stattfindet, auf der Strasse, am Bahnhof, entlang der Seepromenade.
Viele Behörden geben zwar an, das Problem ernst zu nehmen – auch die Regierung des Kantons Luzern, wie sie in einer Antwort auf eine SP-Anfrage von 2020 schreibt: Die Polizei nehme ihre Verantwortung «in Bezug auf die Nichtdiskriminierung von Personen unterschiedlicher Ethnien sehr ernst». Racial Profiling werde bereits in der Ausbildung und beim Eintritt in das Korps Luzern thematisiert, schreibt die Kantonspolizei Luzern auf Anfrage. Vor zwei Jahren schuf die Polizei die Stelle des «Brückenbauers», der die Beamt:innen in interkulturellen Fragen unterstützen soll. Trotzdem bleiben die Massnahmen, die gegen Racial Profiling ergriffen werden, fast überall in der Schweiz hinter dem zurück, was Expert:innen empfehlen – auch in Luzern. So gibt es hier weder eine unabhängige Beschwerdestelle noch ein Quittungssystem für Polizeikontrollen. Anders als in anderen Kantonen ist in Luzern der Schweizer Pass zudem noch immer eine zwingende Voraussetzung für die Arbeit bei der Polizei.
TRAUMATISIERENDE KONTROLLE
Wie verbreitet das Phänomen in Luzern ist, darüber gibt es bis heute keine verlässlichen Zahlen. Auch Forschung über Racial Profiling im Kanton existiert kaum, wie es im «Gleichstellungsbericht» der Hochschule Luzern von 2020 heisst. Dass Racial Profiling eine Realität ist, zeigen die Schilderungen von drei Betroffenen. Sie erzählen, wie einschneidend die Folgen rassistischer Polizeikontrollen im Leben von Betroffenen sind: Sie bewegen sich anders im öffentlichen Raum, verlieren das Vertrauen in die Polizei oder werden vom Erlebten gar nachhaltig traumatisiert. Und ihre Geschichten zeigen auf, weshalb es für Betroffene so schwierig ist, sich zu wehren.
Tota Sino* und Markus Liechti* waren in der Luzerner Altstadt unterwegs, Sino telefonierte, Liechti lief ein paar Schritte hinter ihm, um ihn in Ruhe sprechen zu lassen. Kurz darauf stellten sich ihnen zwei Männer in den Weg. Sie wiesen sich als Zivilpolizisten aus und verlangten die Ausweise von Sino und Liechti. Doch die beiden wehrten sich: «Die Polizeiausweise sahen aus wie aus dem Laserdrucker», sagt Liechti. Sie fragten sich, ob es sich tatsächlich um Polizisten handle.
Dann ging alles schnell: Sino und Liechti wurden zu Boden gedrückt, ihre Hände gefesselt. Die Beamten brachten sie auf den Polizeiposten. Und obwohl sie zusammen angehalten und verhaftet wurden, unterschied sich die Behandlung der beiden: Tota Sino, gebürtiger Thailänder, wurde in eine Zelle gebracht. Er wurde aufgefordert, sich für die Leibesvisitation ganz auszuziehen. Danach wurde er in einer Zelle eingeschlossen, bis er und sein Freund eine Stunde später wieder entlassen wurden. Markus Liechti, gebürtiger Schweizer, wurde ebenfalls in eine Zelle gebracht. Auch er wurde abgetastet, allerdings durfte er seine Kleider anbehalten. Die Tür seiner Zelle blieb die ganze Zeit offen.
Für Sino und Liechti ist klar: Das war Rassismus. Die Erfahrung, von der Polizei gewaltsam verhaftet zu werden, die ungleiche Behandlung und die demütigende Kontrolle Sinos hatten eine traumatische Wirkung auf das Paar. Sie wollten das Geschehene nicht einfach auf sich beruhen lassen und beschwerten sich bei der Polizei. Sie hofften, die Polizei würde den Vorfall aufarbeiten. Sie hofften auf eine Entschuldigung. Stattdessen erhielten sie einen Brief von der Staatsanwaltschaft: Die Polizei hatte gegen Sino und Liechti Anzeige erstattet wegen Hinderung einer Amtshandlung.
«Damit hatten wir nicht gerechnet», sagt Liechti. Sino, der als Übersetzer arbeitet, hatte immer wieder auch Aufträge der Kantonspolizei Luzern. Nach der Anzeige erhielt er keine mehr – es hiess, dass dies aufgrund des laufenden Verfahrens nicht möglich sei. Auch nach dessen Abschluss wurde er nicht mehr angefragt
Sino und Liechti wollten die Anzeige nicht auf sich sitzen lassen – und erhoben Einsprache gegen den Strafbefehl. Während sie 2016 vor Kantonsgericht zunächst verloren, gab ihnen das Bundesgericht in Teilen recht: Die Leibesvisitation Sinos, bei der er sich ganz ausziehen musste, sei unverhältnismässig gewesen. Die Luzerner Polizei passte daraufhin ihre Praxis an. Bei der Leibesvisitation werden Ober- und Unterleib separat abgetastet – was später allerdings wieder vom Bundesgericht in Frage gestellt wurde.
Trotz des Erfolgs vor Gericht leidet Sino bis heute, acht Jahre nach jener Polizeikontrolle, unter dem Erlebten. Er entwickelte eine posttraumatische Belastungsstörung und besuchte eine Psychotherapie. Lange Zeit hatte er Angst, wenn er auf der Strasse die Polizei sah. Bis heute nimmt er Antidepressiva.
Für Liechti war die Erfahrung prägend, wie die Behörden auf ihre Kritik reagierten: «Ich hatte den Eindruck, dass der Staat einfach Recht behalten will und sich gegen seine Bürger:innen stellt», sagt er. «Dabei sollte es in einer Demokratie doch möglich sein, Anweisungen kritisch zu hinterfragen.» Auch wenn diese von der Polizei kämen. «Was bleibt, ist eine Wut. Und ein Unsicherheitsgefühl gegenüber dem Staat.» Die Polizei will Fragen im Zusammenhang mit dem Verfahren von Liechti und Sino nicht beantworten.
HOHE HÜRDEN, SICH ZU WEHREN
Die Geschichte der beiden zeigt, wie schwierig es für Betroffene ist, sich gegen Racial Profiling zu wehren. Es beginnt mit der Beschwerde: Anders als etwa im Kanton Zürich gibt es in Luzern keine unabhängige Anlaufstelle, wo sich Betroffene niederschwellig melden können. In ihrer Antwort auf die SP-Anfrage von 2020 schreibt die Kantonsregierung, dass Betroffene sich gegebenenfalls bei der Polizei oder bei der Staatsanwaltschaft direkt beschweren könnten.
Doch solche Beschwerden hätten häufig zur Folge, dass die Polizei wiederum gegen die Betroffenen Anzeige erstatte, wie humanrights.ch schreibt. Was Sino und Liechti geschah, ist also kein Einzelfall, sondern entspricht einem Muster: Ähnlich geschah es im Fall von Wilson A., der Strafanzeige gegen drei Polizist:innen einreichte und daraufhin wiederum von der Polizei angezeigt wurde. Er wurde 2009 in Zürich kontrolliert. Obwohl er die Beamten darauf hinwies, dass er gerade eine Herzoperation hinter sich habe und nicht angefasst werden dürfe, wurde er zu Boden gedrückt. Die Beamt:innen wurden 2018 vom Bezirksgericht Zürich freigesprochen.
Es bleibt, was Liechti und Sino taten: der Gang vor Gericht. Doch für viele Betroffene ist die Hürde, gegen die Polizei zu klagen, hoch. Zum einen, weil die Erfolgschancen gering sind. Dass Sino und Liechti teilweise Recht erhielten, ist ungewöhnlich. Doch auch in ihrem Fall hatte das Urteil für die involvierten Beamten keine weiteren Konsequenzen. Das ist typisch für Klagen gegen die Polizei: Im Jahr 2017, als das Bundesgericht Sino und Liechti teilweise Recht gab, hatten schweizweit lediglich vier Prozent der Anzeigen wegen Amtsmissbrauch eine Verurteilung zur Folge. Im umgekehrten Fall endeten 85 Prozent der Anzeigen gegen Bürger:innen wegen «Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte» mit einer Verurteilung.
Eine weitere Hürde für Betroffene, sich rechtlich zu wehren, sind die Kosten. Mohamed Wa Baile, der sich 2015 weigerte, der Polizei seinen Ausweis zu zeigen, und dafür angezeigt wurde, zog seinen Fall weiter bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, wo ein Urteil noch aussteht. Der Prozess soll bis jetzt rund 100 000 Franken gekostet haben. Dazu kommt noch die unbezahlte Recherchearbeit von Jurist:innen, Aktivist: innen und Freund:innen.
Für eine Einzelperson sei ein solcher Betrag kaum zu stemmen, sagt Claudia Wilopo von der Universität Basel, die gemeinsam mit Wa Baile bei der Allianz gegen Racial Profiling aktiv ist. «Hinzu kommen die emotio-nalen Ressourcen», sagt sie. «Die ganze Familie ist betroffen, du musst lobbyieren, Deutsch reden können und das System kennen.» Auch Liechti und Sino blieben am Ende auf den mehreren tausend Franken Gerichtskosten sitzen – ihre Schadensersatzklage wurde vom Bundesgericht abgelehnt.
Dabei wäre ein Gerichtsurteil, das Racial Profiling anerkennt, wesentlich, um wirklich etwas ändern zu können, sagt Wilopo. «Es bräuchte einen Präzedenzfall in der Schweiz», sagt sie. «Dann könnte man politisch etwas bewirken, weil es schwarz auf weiss erwiesen wäre.» Dazu bräuchte es unabhängige Anlaufstellen, die Prozessmacht hätten: die also finanzielle und personelle Ressourcen hätten, um Betroffene durch einen Gerichtsprozess zu begleiten.
Musa Adesina hat nie gegen die Polizei geklagt. Er habe sich aber stets gegen die Kontrollen gewehrt. Heute falle ihm das leichter als früher, als er neu in der Schweiz war. Seit seiner Ausbildung im Migrationsbereich sei er mit dem Gesetz vertraut – und er wisse, in welchen Situationen die Polizei ihre Grenzen überschreite. So erzählt er zum Beispiel von einem Vorfall in einem Supermarkt mit afrikanischen Lebensmitteln an der Baselstrasse, in dem er öfters einkaufe. «Plötzlich stand die Polizei im Laden und verlangte, von allen die Ausweise zu sehen.»
Die Kontrolle sei seiner Meinung nach nicht rechtens gewesen. «Sie hätten dem Besitzer erklären müssen, warum sie alle kontrollieren», sagt er. «Die Polizei kann nicht einfach in einen Supermarkt und alle Leute kontrollieren, die drin sind.» Also weigerte sich Adesina, seinen Ausweis zu zeigen. Als ein Polizist ihm das Portemonnaie aus der Hand zog, sagte er: «Wenn irgendetwas fehlt, wenn du es mir wieder gibst, mache ich dich dafür verantwortlich.»
Adesina versucht, sich im Streit mit den Beamten direkt zu wehren, Sino und Liechti zogen gegen sie vor Gericht. Doch wie ist es für Betroffene von Racial Profiling, die ohne Papiere in der Schweiz leben? Ohne einen legalen Aufenthaltsstatus sind sie möglicher Willkür durch die Polizei noch stärker ausgesetzt.
So erzählt es Ghezahegn Asefa*. Seit acht Jahren ist er in der Schweiz, vor sieben Jahren wurde sein Asylantrag abgelehnt. Ohne Papiere ist er gefangen in einem Leben, in dem er nicht arbeiten kann und mit zehn Franken am Tag auskommen muss. Um sich zu entspannen, verlässt er tagsüber lieber die Notunterkunft, in der er lebt. Zu eng sei es dort, zu angespannt oft die Stimmung.
Doch draussen muss er damit rechnen, von der Polizei kontrolliert zu werden. Einmal, erzählt er, war er in einer Gruppe mit anderen in der Stadt unterwegs. Als sie kontrolliert wurden und er keine Papiere vorweisen konnte, habe ihn die Polizei vor die Wahl gestellt: Entweder, er zahle 100 Franken Busse – oder er gehe eine Nacht ins Gefängnis. Das Geld hatte er nicht. Ein Teufelskreis: Wenn Asefa sich draussen aufhält, kommt er in Polizeikontrollen. Auf Polizeikontrollen folgen Gefängnisaufenthalte.
Gegen diesen Teufelskreis könnten etwa Stadtausweise helfen, wie sie derzeit mit der «City Card» in Zürich angedacht sind. Dabei sollen alle Bewohner:innen der Stadt einen Ausweis enthalten, auf dem Details wie etwa der Aufenthaltsstatus nicht ersichtlich sind. Dies soll insbesondere Sans-Papiers den Zugang zu öffentlichen und privaten Angeboten ermöglichen. Wie die Polizei in Luzern mit solchen Ausweisen umgehen würde, sei jedoch unklar, schreibt der Stadtrat in der Antwort auf eine SP-Interpellation, da die Polizei dem Kanton untersteht. Bevor sie eine Einführung prüft, warte die Stadt Luzern die Erfahrungen in Zürich ab.
QUITTUNGEN ALS KONTROLLE
An rassistischen Kontrollen an sich kann jedoch auch ein solcher Ausweis nichts ändern. Stattdessen schlagen manche Expert:innen ein Quittungssystem vor, bei dem Betroffenen von Polizeikontrollen jeweils eine Quittung über Datum, Ort und Grund einer Kontrolle ausgestellt wird. Doch auch dies habe seine Grenzen, sagt Claudia Wilopo: «Die Idee ist gut, die Umsetzung hingegen schwierig.» Zwar könnten Quittungen durchaus eine präventive Wirkung haben, weil sich die Polizei im Moment der Kontrolle rechtfertigen müsste. Komplex wird es, wenn die Quittungen als Datengrundlage für Racial Profiling dienen sollen: «Die Idee wäre, dass das Profiling dann im Quittungssystem aufgenommen, analysiert und reflektiert werden könnte», sagt sie. «Quittungen helfen auch den Betroffenen, denn die Polizei muss sich im Moment der Kontrolle rechtfertigen. Sie würde auch verhindern, dass eine Person gleich nach einer Kontrolle nochmals kontrolliert wird.»
Innerhalb der Behörden – schweizweit, wie auch im Kanton Luzern – ist der Handlungsbedarf zwar gross, um gegen Racial Profiling wirksam vorzugehen. Gesellschaftlich habe sich einiges bewegt in den letzten Jahren. Vor allem die «Black Lives Matter»-Bewegung, bei der im Sommer 2020 auch in der Schweiz zehntausende Menschen gegen Rassismus demonstrierten, hat das Bewusstsein für Rassismus gestärkt. «Ich kann mir vorstellen, dass die Polizei nun bedachter vorgeht», sagt Musa Adesina. Dennoch schmerzt es ihn zu sehen, dass auch seine drei Söhne im Jugend- und jungen Erwachsenenalter bereits regelmässig von der Polizei kontrolliert würden. Letztlich sei Racial Profiling aber nur ein kleiner Teil des Rassismus in der Schweiz, sagt er. Eine Lösung kann also nur sein, den Rassismus als umfassendes Phänomen zu begreifen und zu bekämpfen.
* Alle Namen der Betroffenen geändert