Die Wochenzeitung
Die Unversöhnte
Aus guten Gründen wollte die kürzlich verstorbene Ruth Klüger nicht auf ihre Rolle als Holocaustüberlebende reduziert werden. Das Vermächtnis der Literaturwissenschaftlerin ist auch der scharfe Blick auf den Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft.
Von Daniela Janser
In ihren Memoiren über ihr Weiterleben trotz jahrelanger Lebensgefahr in Konzentrations- und Arbeitslagern beschreibt Ruth Klüger eine Begegnung aus den letzten Kriegsmonaten. Mit letzter Kraft geflohen von einem der Todesmärsche und notdürftig getarnt als deutsches Vertriebenenkind, trifft die Dreizehnjährige auf eine von Hunden und SS-Männern bewachte Gruppe KZ-Häftlinge. «Nach jahrelanger Gemeinsamkeit» betrachtet sie diese nun plötzlich «von aussen». Und sie realisiert, dass sie für ihre früheren LeidensgefährtInnen nun selber aussieht wie eine «Fremde aus der Welt der Bewaffneten».
Aus dieser Erfahrung leitet Klüger nun nicht etwa ein Schuldgefühl ab, weil sie entkommen ist und überlebt hat, sondern ein viel umfassenderes «‹Schulden›gefühl», wie sie es nennt: «Man möchte von den Tätern nehmen, um den Toten zu geben, und weiss nicht wie. Man ist gleichzeitig Schuldner und Gläubiger.»
In vielen Erzählungen von Überlebenden und anderen Geschichten aus den NS-Lagern kann man sich als Lesende mühelos auf die Seite der Opfer schlagen – und kommt so, wenigstens imaginär, ganz unschuldig aus der Lektüre. Man liest sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch diese Geschichten in den Abgrund der Zivilisation hinein und steht doch immer auf der «richtigen» Seite. Ruth Klüger durchkreuzt in «weiter leben. Eine Jugend», einem Buch, das 1992 herauskam, als sie bereits über sechzig war, eine solche Identifikation.
«Nicht zuständig fürs Verzeihen»
Sie tut das, indem sie die erwartete Dramaturgie aufbricht, oder genauer: ins Stocken bringt. Die Deportation führt uns Lesende nicht ins Lager, sondern schwenkt stattdessen erst mal in die Gegenwart: «Das Volk der Touristen, das heute nach München strömt, geht erst zum Marienplatz, um das hübsche Glockenspiel zu geniessen … und fährt dann nach Dachau zu den Baracken.» Das Gewesene wird in die Gegenwart geholt, Reflexionen und unüberbrückbare Lücken durchziehen die Schilderungen des Erlebten. Das gegenwärtige, längst erwachsene Ich bleibt stets präsent. Und dieses gegenwärtige Ich verweigert uns jede einfache Einfühlung und Identifikation mit dem jüdischen Mädchen, das 1942 im Alter von elf Jahren zusammen mit seiner Mutter aus Wien nach Theresienstadt deportiert wurde und die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie nur durch Zufall überlebte.
Klüger hat die Zweifel bei der Verfertigung der Gedanken und dem Aufspüren der eigenen Erinnerungen in ihren zerstückelten, suchenden Text mit eingebaut: «Gestern schrieb ich diese Sätze, heute scheinen sie falsch, verquer.» An anderen Stellen verweist sie auf bestehende Literatur und Forschung: auf einen Kern von bereits gründlich recherchiertem Unverrückbarem, das neben den Unwägbarkeiten der eigenen subjektiven Erinnerungen steht. Eine solche Genauigkeit in den Details ist Klüger wie allen Überlebenden sehr wichtig. Jeden Anspruch auf Versöhnung oder gar «Wiedergutmachung» vonseiten der TäterInnengeneration und ihren Nachkommen weist sie zurück. «Wir Überlebenden sind nicht zuständig fürs Verzeihen», sagte sie gegenüber der Austria Presse Agentur. Und: «Ich halte Ressentiments für ein angebrachtes Gefühl für Unrecht, das nicht wiedergutzumachen ist.»
Kontaminierte Nachkriegszeit
Sie will nicht auf ihre Rolle als Überlebende reduziert werden. «Ich komme nicht aus Auschwitz, ich komme aus Wien», sagte sie programmatisch. Dieses Wien der dreissiger Jahre schildert sie in «weiter leben» als antisemitismusverseuchte Gesellschaft. Quasi hineingeboren in den Aufstieg Hitlers, durfte sie dort von Gesetzes wegen weder die reguläre Schule besuchen noch sich auf eine Parkbank setzen oder im Kino Disneys «Schneewittchen» anschauen.
Der Vater, ein Arzt, war da bereits nach Frankreich geflohen, er wurde später im Konzentrationslager ermordet. Die Mutter, zu der sie zeitlebens ein höchst konfliktbeladenes Verhältnis hatte, arbeitete in einem Spital. Die beiden blieben auch nach der Deportation zusammen: in Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau, Christianstadt, auf der Flucht. Klüger findet nur ambivalente Worte für ihre Mutter. Dieses nicht verschwiegene Kleine, oft auch Kleinliche der persönlichen Gefühle und Abneigungen im Angesicht der alles verschlingenden Vernichtungslogik ist ein weiterer eindrücklicher Stolperstein in ihren Memoiren.
1994, als angesehene Literaturwissenschaftlerin an der University of California, beschreibt Klüger im Buch «Katastrophen. Über deutsche Literatur», warum dem österreichischen Antisemitismus eine zentrale historische Bedeutung zukommt. Nicht zuletzt, weil er so gegensätzliche Figuren wie den Zionisten Theodor Herzl als auch den verschmähten Kunstschüler Adolf Hitler fundamental geprägt hat.
Sie selber blieb ein Leben lang von antisemitischem Hass verfolgt. In «unterwegs verloren», dem Nachfolgebuch zu «weiter leben», über die Jahre nach 1947 und der Emigration in die USA beschreibt sie zahlreiche Szenen, die man kaum glauben möchte. Etwa, wie sie 1952 an der Uni Berkeley mit den Worten, sie sei ein «störendes Element», aus einem Germanistikseminar geworfen wurde, nachdem der Professor die KZ-Nummer auf ihrem Unterarm gesehen hatte.
Überhaupt betont Klüger schon in «weiter leben» eher fatale Kontinuitäten als strahlende Neuanfänge. Sie unterläuft so eine erlösende Dramaturgie der «Befreiung» bei Kriegsende, aber auch ein allzu geschöntes Bild von den «Befreiern». Die Nachkriegszeit ist kontaminiert bis in die Gegenwart hinein, nicht nur von Antisemitismus und frei herumlaufenden Kriegsverbrechern, sondern auch von gedankenlosen Schwätzerinnen wie der durch «weiter leben» geisternden deutschen «Gisela». Diese Gisela erklärt Klüger etwa, dass Theresienstadt «ja nicht so schlimm» gewesen sei – und fordert Versöhnung und Verzeihen ein.
«Werdet streitsüchtig»
Mit ihrer Absage an ein Gedächtnistheater ist Klüger schon in den neunziger Jahren nahe dran an Diskussionen, die heute von jüngeren Intellektuellen wie Max Czollek neu lanciert werden. Im Gedächtnistheater weist eine Mehrheitsgesellschaft den Überlebenden, aber letztlich allen Jüdinnen und Juden eine klar definierte Rolle zu, die einzig der eigenen Läuterung dient. Ein Selbstbild, das auf Abgrenzung zum «anderen» beruht.
In eine ähnliche Richtung weisen Klügers kritische Lektüren von jüdischen Figuren in der Nachkriegsliteratur bei Bestsellerautoren wie Alfred Andersch oder Günter Grass. Diese Lektüren im Buch «Katastrophen» liefern nicht zuletzt gedankliches Besteck für die Fiktionen von heute. Kaum eine der neueren deutschen historischen Fernsehserien kann mit jüdischen Figuren aufwarten, die nicht in die von Klüger skizzierten Schablonen passen.
Was tun gegen solche hartnäckigen Stereotype, Verharmlosungen und Verdrängungen? «Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung», heisst es einmal in «weiter leben». Klüger hat das vorgeführt, auch als sie öffentlich mit ihrem alten Freund Martin Walser abrechnete nach dessen antisemitischem Porträt von Marcel Reich-Ranicki im Roman «Tod eines Kritikers». Heute liegt es an uns, diese Auseinandersetzungen fortzuführen. Ruth Klüger ist am 6. Oktober im Alter von 88 Jahren in Kalifornien gestorben.