Neue Zürcher Zeitung. Ein Sturz von Sébastien Reichenbach wirft ein Schlaglicht auf raue Sitten.
Sébastien Reichenbach ist das Gegenteil eines Selbstdarstellers. Er wirkt bereits leicht angespannt, wenn die Fahrerpräsentation vor einem Rennen auf grosser Bühne stattfindet. Auf Interview-Anfragen reagiert er zurückhaltend. Und trotz seinem enormen Potenzial in den Bergen ist der Walliser Radprofi, der für das französische Team FDJ fährt, am liebsten als Helfer unterwegs.
Umso eindrücklicher war es, als dem 28-Jährigen einmal der Kragen platzte. «Ich bin schockiert, dass es im Profifeld immer noch Dummköpfe gibt, die rassistische Beleidigungen aussprechen», schrieb Reichenbach Ende April auf Twitter. «Ihr seid eine Schande für unseren Sport.»
Eine Debatte findet nicht statt
Reichenbachs Tweet richtete sich in erster Linie an Gianni Moscon aus dem Team Sky. Während der Tour de Romandie hatte der Italiener den dunkelhäutigen FDJ-Fahrer Kevin Reza beleidigt. Reza stellte Moscon unmittelbar nach dem Ende des Rennens zur Rede. Auf Bildern ist zu sehen, wie er mit ausgestrecktem Zeigefinger energisch auf ihn einredet. Aber Reichenbach, dem introvertierten Wasserträger aus Martigny, reichte das nicht. Bei ihm hatte sich ganz offensichtlich etwas aufgestaut.
Eines erreichte der Walliser mit seiner Kritik: Moscon wurde von seiner Mannschaft Sky für sechs Wochen gesperrt. Doch eine Debatte über den latenten Rassismus im Radsport vermochte er nicht loszutreten. Dabei gibt es Anzeichen, dass das überfällig wäre.
Da sind etwa die Probleme der Kolumbianer. Ein paar von ihnen gehören seit Jahren zur Spitze des Pelotons. Aber der Beste, Nairo Quintana, wies 2010 unmissverständlich darauf hin, dass abfällige Bemerkungen keineswegs der Vergangenheit angehörten. «Es hat sich nichts geändert», sagte Quintana, der gerade die Tour de l’Avenir gewonnen hatte. Es habe Probleme mit Franzosen, Australiern und Amerikanern gegeben. «Sie wollten uns nicht an der Spitze des Feldes, sie haben uns ausgebremst, angeschrien, schlecht behandelt.»
Quintana hat seitdem seinen Weg gemacht. Aber er ist mental robust. Die Frage ist, was die negativen Erfahrungen mit einem psychisch labileren Jungprofi gemacht hätten.
In den letzten Jahren konnten sich in dem Sport, der von Weissen dominiert wird, einzelne Schwarzafrikaner profilieren. Den Langstreckenlauf dominieren die Kenyaner und Äthiopier längst, und es gibt auf den ersten Blick keinen Grund, warum sie nicht auch im Radsport eine grössere Rolle spielen sollten. Langsam holen ostafrikanische Fahrer auf. Daniel Teklehaimanot aus Eritrea sicherte sich an seiner ersten Tour de France 2015 zwischendurch das Trikot des besten Bergfahrers.
Im gleichen Jahr wurde sein Landsmann Natnael Berhane bei der Österreich-Rundfahrt als «fucking nigger» beschimpft. Er und seine Teamkollegen sollen ausserdem mehrfach mit Affenlauten belästigt worden sein.
Der Umgangston im Radsport ist rau, das ist bekannt. Aber wie schwer es Neulingen gemacht wird, wenn sie sich etwa bei einem Schlusssprint nicht hinten einreihen, sondern frech dagegenhalten, wird selten thematisiert. Wer noch keinen Namen hat, muss sich vieles anhören. Und wenn er schwarz ist, womöglich noch mehr.
Der Sky-Fahrer Moscon, der Reza beleidigt hatte, fährt längst wieder Rennen. Als seine sechswöchige Suspendierung zu Ende war, sagte der Italiener, er habe ein reines Gewissen. Er habe niemanden getötet. Einsicht klingt anders.
Diese Woche eskalierte offenbar sein Konflikt mit Reichenbach. Der Walliser wirft Moscon vor, er habe ihn im italienischen Eintagesrennen Tre Valli Varesine in einer Abfahrt absichtlich zu Fall gebracht. Das wäre, sollte es stimmen, eine inakzeptable Retourkutsche. Reichenbach hat sich den Arm gebrochen und muss die Saison beenden.
Der Walliser hat Anzeige erstattet und sich beim Radsport-Weltverband UCI beschwert. Dort hat die Strassenrennen-Kommission Ermittlungen aufgenommen. Mit einer schnellen Entscheidung ist nicht zu rechnen. Das siebenköpfige Gremium kann nur Empfehlungen aussprechen, über die dann die Disziplinar-Kommission zu entscheiden hätte.
Moscons Team Sky dürfte der Bürokratismus des UCI in diesem Fall nicht unrecht sein. Ein Sky-Sprecher erklärt, er wolle sich erst zu dem Sturz äussern, nachdem alle Beteiligten Gelegenheit gehabt hätten, ihre Sicht gegenüber den offiziellen Instanzen zu schildern.
Die Haltung der Gegenpartei überrascht noch mehr. Der FDJ-Sportdirektor Martial Gayant fordert zwar, Moscon eingehend zu befragen. «Der Sturz hätte noch schlimmer enden können», sagt er. Moscon müsse auf mögliche psychische Probleme untersucht werden. Der Italiener ist in diesem Jahr noch ein weiteres Mal negativ aufgefallen. An den Rad-Weltmeisterschaften in Bergen wurde er disqualifiziert, nachdem er sich an einem Teamfahrzeug festgehalten hatte.
Aber sobald es um seinen dunkelhäutigen Fahrer Reza geht, lenkt Gayant das Gespräch in eine unerwartete Richtung. Auf den letzten Kilometern eines Rennens gehe es fast immer eng und hektisch zu, sagt er. Und in der Hitze des Gefechts fielen ab und zu unbedachte Worte. «Jeder will sich seinen Platz sichern», sagt Gayant. «Normalerweise lachen wir im Nachhinein über so etwas.»
«Sébastien ist eben korrekt»
Der Franzose ist schon lange dabei. In den 1980er Jahren war er selbst ein erfolgreicher Fahrer, bereits seit 2003 ist er Sportdirektor. Jetzt wirkt es, als wünsche sich Gayant, dass dem Radsport die rauen Sitten erhalten bleiben, dieser Kampf auf Biegen und Brechen, durchaus auch verbal.
Gayant sagt, früher sei man freier gewesen, sich auch einmal undiplomatisch zu äussern. Heute müsse jeder Fahrer damit rechnen, überall beobachtet und gefilmt zu werden. «Ein falsches Wort, und es prasselt Kritik.»
Reichenbach wiederum hat Respekt für seinen Teamkollegen eingefordert. Und indirekt auch für andere Sportler, die Opfer rassistischer Attacken werden. Gayant will seinen Fahrer dafür natürlich nicht kritisieren, das ginge zu weit. Er sagt nur: «Sébastien ist eben sehr korrekt.»
Offenbar korrekter als ein gewisser Teil des Pelotons. Opfer einer Retourkutsche? Sébastien Reichenbach erhebt Anklage.