Zehn Minuten hat er geredet, elf vielleicht. Dann hält Oskar Freysinger inne, stützt die Hände auf das Rednerpult, schaut in den Saal. Er sagt den nächsten Satz, den übernächsten, den überübernächsten. Wird schneller und schneller, lauter auch, und plötzlich fliegen seine Worte durch den Saal, als seien es Petarden, die beim Aufprall knallen müssten. Die USA (unter Barack Obama): «Brutale Schlächter». Die EU: «Eine Kopfgeburt». Der Islam: «Gewalttätig». Und schliesslich als Finale seiner Accelerandos und Crescendos: «Der zivilisatorische Anfangsfunke war noch nie so bedroht wie heute.» Es ist der 5. November 2016, ein Sonntag in Berlin. Geschätzte 200 Zuhörer sitzen im Saal, die meisten sind radikale Rechte oder Verschwörungsanhänger oder beides. Ihr Applaus ist lang und laut. Der nahe Untergang des Abendlands, das ist die Sprache, die sie kennen.
Oskar Freysinger ist Staatsrat des Kantons Wallis. 2013 wurde er neu gewählt, in drei Wochen wird er im Amt bestätigt, daran jedenfalls zweifelt keiner. Am 5. März sind Wahlen, und die einzige Frage ist, ob Freysinger wie vor vier Jahren das beste Resultat aller Kandidierenden macht. Der SVP-Mann, Katholik und verheirateter Vater von drei Kindern gilt vielen im Wallis als Held. Und als einer der Ihren, obwohl seine Eltern aus Österreich zugewandert sind. Er steht nicht nur für die Bewahrung des erzkonservativen Katholizismus, der im Kanton eine jahrhundertealte Tradition hat, sondern auch für die Abwehr des Fremden, hinter dem viele Bewohner hier das Böse wittern.
Im Wahlkampf lässt der 56-Jährige nichts aus. Er hat ein rechtsbürgerliches Bündnis gegründet, dem nicht nur er und eine Parteikollegin angehören, sondern mit Nicolas Voide auch ein CVP-Grossrat. Dass dieser zusammen mit der SVP antritt, ist im Wallis, in dem die Katholiken während Jahrzehnten das alleinige Sagen hatten, ein Tabubruch. Und es ist gleichzeitig ein Frontalangriff auf Christophe Darbellay, der ebenfalls für den Staatsrat kandidiert. Seit bekannt ist, dass der frühere Nationalrat und CVP-Präsident neben drei ehelichen auch noch ein uneheliches Kind hat, gilt er in konservativen Walliser Kreisen als nicht mehr wählbar. Es ist kein Zufall, dass Freysinger seither immer wieder den Wert der Familie preist.
«Antigone, kennen Sie?»
Aber er preist nicht nur die Familie. Er poltert auch gegen die EU, den Islam, die Ausländer. Das vor allem, gegen die Ausländer. Vorläufiger Tiefpunkt der Kampagne war ein Inserat, das in der Walliser Zeitung «Le Nouvelliste» erschien und das für Freysingers rechtsbürgerliches Bündnis warb. Darauf zu sehen war die Foto einer weinenden Frau. Neben ihr stand: «Maria, Mutter, kann ihre Miete nicht mehr bezahlen.» Und: «Der Staat zahlt 650 000 Franken pro Monat für die Mieten von Migranten.» Und schliesslich: «Das Wallis zuerst.» Es ist das Stereotyp der Rechtsnationalen, dass Ausländer das Schweizer Sozialsystem aushöhlen und zum Einsturz bringen. Und natürlich lehnt sich der Slogan «Das Wallis zuerst» an den Wahlspruch an, mit dem es Donald Trump zum Präsidenten der USA geschafft hat: «America First».
Oskar Freysinger sitzt in seinem Büro an der Place de la Planta, dem Hauptplatz von Sion. Im Radio läuft klassische Musik, aus dem Fenster sieht man, wie Arbeiter Festzelte für die Fasnacht aufbauen. Freysinger – Jeans, Jeanshemd, blauer Veston – ist in Fahrt. Er redet und redet: der Zerfall, die falschen Werte, die richtigen Werte. Redet und redet und zitiert eine Unmenge bildungsbürgerlicher Versatzstücke: Rilke, Benn, Goethe, Sophokles, Antigone. «Antigone, kennen Sie?» Man fühlt sich ertappt wie ein Schüler, der nicht aufgepasst hat, und fragt zurück: «Griechische Mythologie?» Freysinger wechselt vom Walliser Dialekt ins Hochdeutsche: «Ein Grundstein unserer Werte.» – «Ein Grundstein? Aber, Herr Freysinger, warum sprechen Sie eigentlich immer wieder Hochdeutsch?» – «Damit Sie es besser verstehen.»
Oskar Freysinger gibt sich volksnah, seine Website heisst «Oskar et Vous», er selbst nennt sich «Staatsrat ohne Krawatte». Aber eigentlicher Kern seiner Politik ist die radikale Ab- und Ausgrenzung. Hier gut, da böse, hier wir, da die anderen. Das Böse, das sind für ihn die USA und die EU, die Linken und die Medien, die Ausländer und der Islam. Wenn es gegen dieses «Böse» geht, kennt Freysinger kein Halten mehr. Exemplarisch zeigt sich das in einem Leserbrief, der in der Zeitung «Walliser Bote» erschien: Freysinger beschimpfte darin ein SP-Mitglied, das seine Amtsführung als Staatsrat kritisiert hatte, als «Monomanen», der an «pathologischer Schreibwut» und «Selbsthass» leide.
Im Kampf gegen das «Böse» hat sich Freysinger mit allerlei Radikalen am rechten Rand von Politik und Gesellschaft vernetzt. Die Rede vom letzten November in Berlin hielt er auf Einladung von Jürgen Elsässer. Dieser ist Herausgeber des deutschen Magazins «Compact», das der AfD und der Pegida nahesteht und völkisches Gedankengut verbreitet. Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung schreibt über ihn: «Er versorgt seine Gefolgschaft . . . mit Feindbildern, Verschwörungstheorien und Hassparolen.»
Ein Jahr zuvor, im Oktober 2015, war Freysinger in Nordrhein-Westfalen bei der AfD zu Gast. Und im März 2010 verlas die Partei «Pro NRW» in Köln eine Grussbotschaft von ihm. Darin rief Freysinger die «abendländischen Freunde» dazu auf, sich wieder zu «unserer mehrtausendjährigen Kultur» zu bekennen. «Pro NRW» ist gemäss deutschem Verfassungsschutz eine rechtsextremistische Partei und steht im Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit.
Von Putin begeistert
Die Liste radikaler Rechter aus Europa, mit denen Oskar Freysinger verkehrte und verkehrt, lässt sich fast beliebig verlängern. Da ist zum Beispiel der Franzose Pierre Cassen, der die Rechtsaussen-Plattform «Riposte laïque» gründete. Oder der Niederländer Geert Wilders, der eine Internationale von Anti-Islamisten ins Leben rief. Oder Slobodan Despot, der für Freysinger als Kommunikationsberater arbeitet und serbischen Nationalisten das Wort redet. Und als ob das nicht genug wäre: Der SVP-Staatsrat liess sich in Sicherheitsfragen von Piero San Giorgio beraten, der in einem Video Menschenrechte als «Scheisse» bezeichnete, Behinderte verunglimpfte und bei Gefahr den Einsatz von Waffen empfahl. Mittlerweile verzichtet der Staatsrat auf die Zusammenarbeit mit dem umstrittenen Berater.
Noch immer sitzt Oskar Freysinger in seinem Büro an der Place da la Planta in Sion. Zweieinhalb Stunden sind vergangen, doch der 56-Jährige redet mit dem gleichen Furor wie am Anfang. Wenn ihm etwas wichtig ist, gestikuliert er mit den Armen und beugt den Oberkörper vor in Richtung seines Gegenübers. Rechtsextreme? «Mit Rechtsextremen habe ich nie zu tun gehabt», sagt er, und in seiner Stimme schwingt Trotz mit. Und die Grussbotschaft für die rechtsextremistische Partei «Pro NRW», die noch immer auf Youtube zu finden ist? «Mit ‹Pro NRW› habe ich nie Kontakt gehabt.»
Vielleicht liegt das Problem ja auch gar nicht in der mangelnden Abgrenzung gegen Rechtsextreme, sondern in einer Politik, die von Häme gegen Andersdenkende und Andersgläubige geprägt ist. «Oskar Freysinger hat sich nie rassistisch geäussert, zumindest nicht im Sinne der Rassismus-Strafnorm», sagt Publizist Hans Stutz, der die rechtsextremen Strömungen in der Schweiz seit Jahren beobachtet. «Aber er ist offen für völkisches Gedankengut. Und er ist getrieben von einem stetigen Diskriminierungswillen.» Allerdings will der SVP-Staatsrat auch das nicht gelten lassen: «Ich schüre weder Fremdenfeindlichkeit noch Ausländerhass.»
Sowieso spricht Oskar Freysinger lieber von anderem. Von seinem Werdegang: Mittelschullehrer in Sion, Nationalrat der SVP, Staatsrat der SVP, Vizepräsident der SVP. Von seinen Verdiensten als Vorsteher des Walliser Bildungs- und Sicherheitsdepartements; er hat sie zu einer Liste mit 35 Punkten zusammengetragen, vom «Zigeuner-Konzept» bis zur Empfehlung, an Schulen das Buch «Le Petit Prince» zu lesen. Und lieber spricht er davon, wie das Abendland vor dem Untergang zu retten ist. Mit der Rückbesinnung auf die christlich-griechischen Werte (Antigone!). Und mit dem Vertrauen auf Russland. Russland? Ausgerechnet der Staat, in dem es immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen kommt? Ja, das Land hat es ihm angetan. Freysinger schwärmt von der «russischen Seele» und der «Demut der orthodoxen Welt». «Russland weist in die richtige Richtung», sagt er. Wladimir Putin gehe einen dritten Weg zwischen gewalttätigem Islamismus und entfesseltem Kapitalismus. Und dieser Weg habe auch eine geistige Dimension.
Wie hatte Freysinger doch schon in Berlin in den Saal gerufen? «Sollte Russland unterliegen, ist unsere Zivilisation am Ende.»
Ein Feindbild
Ist er im Visier des IS?
53 000 Walliser (von 205 000 Stimmberechtigten) haben bei den letzten Staatsratswahlen Oskar Freysinger gewählt. Das war das beste Resultat aller Kandidaten. Am zweitmeisten Stimmen erhielt Jean-Michel Cina (cvp.). Auch beim Urnengang vom 5. März ist Freysinger einer der Favoriten. Neben ihm treten zwölf weitere Kandidaten und Kandidatinnen an, unter ihnen drei der CVP, drei der «Linken Allianz» und zwei der FDP. Der bekannteste von ihnen ist der frühere CVP-Chef Christophe Darbellay.
Freysingers Wahlresultat täuscht darüber hinweg, dass er für viele im Wallis ein Feindbild ist. «Ich habe für meine Meinungen und Meinungsäusserungen hart bezahlen müssen», sagt er selbst. «Man hat mein Haus angezündet, mich mit Eisbrocken beworfen und mich bespuckt.» Der Brandanschlag auf Freysingers Haus war im Jahr 2002 verübt worden.
Weiter sagt Freysinger: «Ich stehe auch auf der Abschussliste der Terrororganisation Islamischer Staat.» Ob dem tatsächlich so ist, ist nicht klar. Weder der Nachrichtendienst des Bundes noch das Bundesamt für Polizei oder die Walliser Polizei wollen sich dazu äussern. Die These war im Jahr 2015 ein erstes Mal in den Medien aufgetaucht; eine Bestätigung dafür gab es allerdings nie. (luh.)