Die Luft ist schon dermassen dick, obwohl der Präsident den Abend mit seinem Glöcklein noch nicht einmal eingeläutet hat. Zwei Mitglieder betreten den dämmrigen Neubarock-Saal im St.Galler Bahnhofsgebäude und machen gleich wieder rechtsumkehrt. «Das ist ja wie in der Sauna hier drin, ich gehe wieder», sagt der erste. Sein Kamerad pflichtet ihm bei: «Ich komme gleich mit.» Später wird einer der beiden dann doch wieder zurückkommen und die Urkunde für 40 Jahre Mitgliedschaft in Empfang nehmen. So viele wie heute Abend waren seit Jahren nicht mehr gekommen. Gegen 120 Personen erscheinen zu dieser 154. Hauptversammlung der SAC-Sektion St.Gallen, darunter etliche Jubilare, der Älteste ist seit 70 Jahren dabei. Das Gros verzichtet auf den Lift und steigt die 52 Treppenstufen zum historischen Saal zu Fuss hinauf – Berglerehrensache. Die Stühle sind rasch besetzt, einige hocken auf die Fenstersimse, der Rest reiht sich an der Wand auf.
Auch Hans Fässler feiert an diesem Donnerstag sein 40-Jähriges. Das ist aber nicht der Grund für sein Erscheinen. Der St.Galler Historiker arbeitet seit Jahren die Geschichte des Naturforschers und Rassentheoretikers Louis Agassiz auf (Kasten). Agassiz wurde für seine Verdienste als Glaziologe und Bergsteiger vor 152 Jahren Ehrenmitglied des Schweizerischen Alpenclubs. Diese Adelung passt nicht allen.
«Die Sektion ins Rampenlicht gezerrt»
Die von Fässler initiierte Umbenennung des Agassizhorns in den Berner Alpen scheiterte 2007 am Widerstand der betroffenen Gemeinden. Nun will er, dass der SAC Agassiz die Ehrenmitgliedschaft aberkennt. Dazu hätte die St.Galler Sektion das Ansinnen bei der Schweizer Abgeordnetenversammlung deponieren sollen. Schon an der HV vor einem Jahr wurde darüber befunden. Fässler fand eine Mehrheit, die Abstimmung war aber ungültig – das Geschäft war nicht statutenkonform traktandiert worden. Selten hat der SAC so viel mediales Interesse geweckt wie mit der Agassiz-Geschichte. In anderen Angelegenheiten hätte wohl niemand beanstandet, dass ein Mitgliederantrag nicht ordentlich traktandiert wurde. Aber Fässlers Antrag geriet etlichen Mitgliedern in den falschen Hals. Einige stiessen sich daran, dass ein Linker wie Fässler, der zuletzt kaum noch zu den Versammlungen erschienen war, den SAC für seine Zwecke «instrumentalisierte». Einige fanden, Fässler habe die Sektion «ins Rampenlicht gezerrt». Auf die erste Abstimmung folgten gehässige Leserbriefe. Die Debatte schien zeitweise aus dem Ruder zu laufen. Was er per Mail und in Telefonaten zu lesen und zu hören bekam, sei teils «jenseits» gewesen, sagt Sektionspräsident Marcel Halbeisen. «So etwas will ich nie wieder erleben.»
Entsprechend nervös ist Hans Fässler vor der Versammlung am Donnerstagabend. «Es könnte schwierig werden», sagt er und verschwindet im Saal. Die Versammlung beginnt gesellig, es wird geehrt und jubiliert. Der Vorstand arbeitet Jahresberichte, Verabschiedungen, Wahlen und Rechnung ab. Immer wieder öffnet jemand die Fenster. Gegen die Schwüle hilft es nicht.
Dann endlich wird Fässler aufgefordert, sein Anliegen erneut vorzubringen. Abfälliges und zustimmendes Gemurmel mischen sich im Saal. Fässler geht sofort in die Offensive: In einem zehnminütigen Plädoyer kontert er sämtliche Angriffe, die ihn in den vergangenen Monaten getroffen hatten. Agassiz’ Naturforschung und seine Rassentheorie dürften nicht getrennt voneinander betrachtet werden, argumentiert er. Gerade für Agassiz sei die «weisse Überlegenheit» ein integraler Bestandteil seines Naturverständnisses gewesen. Einige hätten ihm vorgehalten, man fände wohl bei jedem etwas Negatives, wenn man nur lange genug grüble. «Mir geht es nicht um Parkbussen oder Notlügen, sondern um Erinnerungspolitik und um die grossen Menschheitsverbrechen», ruft Fässler in den Saal. Und wer sich heute gegen eine «Verpolitisierung des SAC» wehre, der sei an die rechtsextremen Positionen des Alpenclubs in den 1920er- und 1930er-Jahre erinnert. Im Publikum tippt einer auf seine Uhr. Zwei andere genehmigen sich eine Prise Schnupftabak.
Dann spricht Präsident Halbeisen. Elegant entzieht er sich der inhaltlichen Debatte und empfiehlt ein Ja zu Fässlers Antrag. So würde die Angelegenheit Sache des Zentralverbandes, die Ehrenmitgliedschaft Agassiz’ wäre noch nicht aberkannt und die Sektion fein raus, meint er. Bei einem Nein könnte dagegen der Antrag nächstes Jahr erneut der St.Galler Sektion vorgelegt werden.
Halbeisen eröffnet die Diskussion. Man dürfe Agassiz’ Denkweise nicht an heutigen Werten messen, sagt ein Jubilar. «Selbst Lincoln, der die Sklaverei abgeschafft hatte, war ein Rassist.» Statt des Wühlens in alten Zeiten wäre eine Debatte über Integration wünschenswert. Damit könnten vielleicht Mitglieder gewonnen werden, «deren Haut nicht wegen der Gletschersonne braun ist». Ein anderer wendet ein, dass eine Ehrenmitgliedschaft juristisch gesehen gar nicht aberkannt werden könne, da sie mit dem Tod ohnehin erlischt.
«Unterbrich mich ja nicht!»
Angelika Wessels, Mittelschullehrerin und Autorin eines Alpsteinromans, ist die erste, die für Fässler Partei ergreift. «Mir schlottern die Knie, aber ich muss doch etwas sagen.» Das Zeitgeistargument gelte nicht. «Auch bei den Nazis hat es Nein-Sager gegeben.» Und was gebe es für ein Bild in der Öffentlichkeit, wenn man einmal Ja sage und jetzt – ein Jahr später – Nein? Sie verweist auf Matthäus 5, 37: «Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein.» Ein Raunen geht durchs Publikum. Wessels sitzt wieder ab. Es gibt keinen Applaus, dafür einen Handschlag des Sitznachbarn.
Dann setzt Schützengarten-Präsident Christoph Kurer zur Gegenrede an. Es habe nichts mit Wankelmut zu tun, wenn der Antrag abgelehnt würde. «Vergangenes Jahr ist man von Fässlers Vorpreschen schlicht überrumpelt worden.» Dessen Sendungsbewusstsein sei zwar «anerkennenswert», jedoch solle dafür nicht die Sektion hinhalten. Abgesehen davon sei der Hitler-Vergleich «verrückt und absurd». Der nächste Redner ist Migg Grisel, Urgestein und bunter Hund der St.Galler Sektion. Er hatte vergangenes Jahr Beschwerde eingereicht und die Wiederholung der Abstimmung erwirkt. Halbeisen will ihn noch abklemmen, doch Grisel weist den Präsidenten zurecht: «Unterbrich mich ja nicht!» Grisel weiss viel, er hat recherchiert. «Man darf über Agassiz diskutieren, aber es ist nicht Sache der Sektion, eine Entscheidung des Zentralvorstands von vor über 150 Jahren zu hinterfragen.» Das solle Fässler persönlich dort vorbringen.
Es folgen noch zwei Wortmeldungen pro Fässler, die allerdings nichts mehr bewirken. Die Meinungen sind ohnehin gemacht. «Der Wein wird warm», mahnt der Präsident und lässt zur Abstimmung schreiten. Der Antrag wird mit 65 Nein- zu 50 Ja-Stimmen bei 9 Enthaltungen abgelehnt. Fässler zeigt sich danach konsterniert, akzeptiert aber seine Niederlage. Ganz unerwartet kam sie nicht. So viel steht fest: Er wird seiner Sektion die Agassiz-Geschichte kein drittes Mal zur Debatte stellen.
Jean Louis Rodolphe Agassiz (1807–1873)
Louis Agassiz stammte aus dem freiburgischen Haut-Vully, wo er als Sohn eines protestantischen Pfarrers den grössten Teil seiner Kindheit verbrachte. In Lausanne, Zürich, Heidelberg und München studierte er Medizin, Naturwissenschaften und Philosophie. Später zog er nach Paris. Dort studierte er Ichthyologie (Fischkunde) bei Georges Cuvier, welcher die «Rasse der Neger» aufgrund des Erscheinungsbildes in die Nähe von Affen rückte. Als Ichthyologe erlangte Agassiz einigen Ruhm. 1832 nahm er eine Professur am Lyceum de Neuchâtel an. Zu dieser Zeit wuchs sein Interesse an der Gletscherforschung. Allerdings war er nicht – wie allgemein oft angenommen – der Erfinder der Eiszeittheorie, sondern lediglich einer ihrer prominentesten Vertreter. Die Theorie stammte eigentlich vom Walliser Ignatz Venetz. Über die Urheberschaft der Eiszeittheorie entbrannte ein Streit. Agassiz beschloss 1846, in die USA zu reisen. Zunächst wurde er Professor der Zoologie an der Harvard-Universität, 1852 wechselte er nach Charleston, wo er vergleichende Anatomie lehrte. Er lehnte Darwins Evolutionstheorie ab und warnte im Kontext des amerikanischen Sezessionskrieges ausdrücklich vor der Vermischung der Rassen, was «wider die Natur» sei. Einmal schrieb er: «Das Hirn des Negers entspricht dem unvollständigen Hirn eines siebenmonatigen Fötus im Mutterleib einer Weissen.» Gegenüber dem SAC-Organ «Die Alpen» sagt der ETH-Historiker Bernhard Schär, Agassiz’ Haltung sei schon «für damalige Verhältnisse radikal und krud» gewesen.
«Mir geht es um Erinnerungs- politik und die grossen Menschheitsverbrechen.»
Hans Fässler
Historiker, seit 40 Jahren SAC-Mitglied