Markus Schefer, eine Pistole, die auf einen ausländischen Staatschef gerichtet ist: Was löst dieses Plakat, das an einer Demonstration in Bern zu sehen war, in Ihnen aus?
Mit diesem Sujet und dem zugehörigen Satz «Tötet Erdogan – mit seinen eigenen Waffen!» wird eine weit übertriebene, gewalttätige Aussage gemacht. Eine, die der Problematik des autoritären Regimes in der Türkei sicherlich nicht angemessen ist.
Welche rechtlichen Konsequenzen drohen den Urhebern des Plakats?
Die Staatsanwaltschaft hat ein Strafverfahren wegen Aufrufs zur Gewalt und zu Verbrechen eingeleitet. Falls dieser Tatbestand erfüllt ist, wird es eine Bestrafung der Verantwortlichen geben. Welche, wird man sehen.
Können auch die Veranstalter sanktioniert werden?
Die Organisatoren hatten einen eigenen Ordnungsdienst im Einsatz. Dieser hat jedoch aufgrund von Sicherheitsüberlegungen entschieden, das Plakat nicht zu entfernen. Von daher ist den Organisatoren kein Vorwurf zu machen, sondern einzig jener Gruppierung, welche einen friedlichen Anlass für ihre Zwecke missbraucht hat.
Die Polizei hat das Plakat offenbar bereits an der Demonstration festgestellt, ist aber ebenfalls nicht eingeschritten. Wie beurteilen Sie dieses Vorgehen?
Greift die Polizei bei einer friedlichen Veranstaltung ein, um ein Plakat zu entfernen, riskiert sie, dass Gewalt entsteht. Von daher erscheint der Entscheid, es hängen zu lassen, nach heutigem Kenntnisstand durchaus gerechtfertigt.
Dann muss man geschmacklose, ja gar zu Gewalt aufrufende Plakate tolerieren aus lauter Angst, dass Demonstrationen ausarten?
Nein. Man toleriert solche Plakate ja eben nicht – es gibt ja jetzt ein Strafverfahren deswegen.
Trotzdem: Man hat das Plakat während der Veranstaltung akzeptiert.
Es ist nicht die Pflicht der Polizei, strafrechtlich möglicherweise relevante Plakate an einer Demonstration sofort zu entfernen. Sie muss den friedlichen Verlauf einer Veranstaltung gewährleisten. Sie muss abwägen, welche Rechtsgüter wie geschützt werden sollen. Tut sie es nicht, macht sie ihren Job schlecht.
Das umstrittene Plakat war von Linksautonomen von der Reitschule zur Kundgebung auf dem Bundesplatz mitgebracht worden. Hätte die Polizei bereits zu diesem Zeitpunkt einschreiten müssen, zumal kein Marsch bewilligt war?
Die Polizei muss nicht vorgängig einschreiten, um zu verhindern, dass strafrechtlich möglicherweise relevante Äusserungen getätigt werden. Nochmals: Sie muss sicherstellen, dass eine Veranstaltung friedlich über die Bühne geht.
Muss sie dann generell so handeln wie beim Anlass der Partei national orientierter Schweizer (Pnos) in Kaltbrunn? Damals liess sie die Pnos gewähren, obwohl dort ein rechtsextremer Musiker aufgetreten ist.
Es ist politisch stossend, aber: Auch Rechtsextreme dürfen ein Konzert veranstalten, auch ihre Versammlungsfreiheit ist geschützt. Aufgrund eines vagen Verdachts, dass an einem solchen Anlass rassistische Äusserungen getätigt werden, kann die Polizei die Veranstaltung nicht verbieten, das wäre eine Überreaktion. Aufgabe der Polizei ist es, abzuklären, ob solche Äusserungen erfolgen, und sicherzustellen, dass sie nachher strafrechtlich verfolgt werden können.
Wo liegen die Grenzen der Meinungsfreiheit bei Kundgebungen?
Dort, wo zu Gewalt aufgerufen wird und eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese nachher auch ausgeübt wird.
Sehen Sie diese Voraussetzungen im Berner Fall erfüllt?
Das ist schwierig zu beurteilen. Die Frage ist, wie die Aufforderung auf dem Plakat von den Gegnern des türkischen Staatschefs Erdogan aufgenommen wird. Besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass einer von ihnen aufgrund des Plakats zusätzlich angestachelt wird und dass er findet, dass Erdogan jetzt wirklich erschossen werden muss? Um diese Frage zu beantworten, müsste man genauere Einblicke in die innenpolitischen Auseinandersetzungen in der Türkei haben.
Sind Ihnen Fälle geläufig, die jenem in Bern ähneln?
In der Schweiz dürfte ein solches Vorkommnis selten sein. Hingegen erinnere ich mich an einen ähnlichen, aber nicht deckungsgleichen Fall in den USA. Nach dem missglückten Attentat auf Präsident Ronald Reagan sagte ein Staatsangestellter, der noch in der Probezeit war, zu Arbeitskollegen, er hoffe, beim nächsten Versuch erwische es Reagan dann wirklich. Der Mann wurde entlassen. Der Oberste Gerichtshof fand schliesslich, das gehe nicht. Seine Argumentation: Politische Äusserungen – und um eine solche handle es sich – seien speziell von der Meinungsfreiheit geschützt. Zudem drohe vom Kreis der Menschen, welche die Äusserung gehört hatten, keine konkrete Gefahr für die Umsetzung einer solchen Tat.
Vom Eklat in Bern profitiert vor allem einer: der türkische Staatschef.
Es scheint tatsächlich so, dass das Plakat Erdogan innenpolitisch nützt. Aber auch das müssen letztlich intime Kenner der türkischen Innenpolitik abschätzen.
Markus Schefer (52) ist seit 2001 Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel.
Istanbuler Staatsanwalt nimmt Ermittlungen auf
Auslandstürken in der Schweiz können seit gestern über das Referendum für ein Präsidialsystem in ihrem Land abstimmen. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft leitete derweil wegen des umstrittenen Erdogan-Plakats an der Demonstration von Samstag in Bern rechtliche Schritte ein. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu gestern verlauten liess, ermittelt die Istanbuler Staatsanwaltschaft wegen «Mitgliedschaft in einer Terrororganisation», «Beleidigung des Präsidenten» und «Propaganda für eine Terrororganisation».
Die Berufsrisiken eines Botschafters
Protest · Zuerst musste Vize-Botschafterin Nathalie Marti im türkischen Aussenministerium antraben, später dann auch noch Botschafter Walter Haffner. Sie wurden am Wochenende von den Behörden in Ankara «einbestellt», wie es im diplomatischen Jargon heisst. Die Türkei protestierte so offiziell bei der Schweiz gegen das Anti-Erdogan-Plakat an einer Demonstration in Bern. «Diese Reaktion von Ankara darf nicht überbewertet werden», sagt der langjährige Schweizer Diplomat Max Schweizer.
Die Einbestellung des Botschafters ist in der Diplomatie eines von mehreren Mitteln, mit denen Staaten ihrem Ärger Luft machen können – und dabei eines der harmloseren. Die sanfteste Form der Kritik ist die Einladung des Diplomaten zu einem Gespräch ins Aussenministerium. Ist der Ärger grösser, kommt es zur Einbestellung. Es ist eine schärfere diplomatische Geste – und weil sie öffentlich gemacht wird, ist auch die Wirkung grösser. Wobei dies laut Schweizer nur in Ausnahmefällen an einem Wochenende passiert. Damit ist das diplomatische Arsenal aber noch lange nicht ausgeschöpft. Verschärft sich der Konflikt weiter, kann ein Staat den eigenen Botschafter im anderen Land zu Konsultationen einbestellen oder sogar abberufen. Zudem können diplomatische Vertreter aufgefordert werden, das Land zu verlassen. So ist es im Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen geregelt.
Die Diplomaten geben sich die Klinke in die Hand
Die Einbestellung des Botschafters ist laut Schweizer das diplomatische Mittel, zu dem die Türkei gerade im Vergleich zu westeuropäischen Ländern oft und gerne greift. Im Aussenministerium in Ankara geben sich die ausländischen Diplomaten in letzter Zeit tatsächlich die Klinke in die Hand. In den vergangenen Wochen wurden auch die Botschafter von Deutschland, Norwegen und der Niederlande einbestellt. «Der türkische Präsident lässt das gerne machen, um der Welt seinen Ärger zu zeigen», sagt Schweizer. Das müsse nicht zwingend weitere Konsequenzen haben für die Beziehung zwischen den Ländern.
Für den Botschafter selbst sei es aber trotzdem keine angenehme Situation, sagt Schweizer. Der Ex-Diplomat spricht aus eigener Erfahrung. Er war zwischen 2003 und 2007 in der Türkei stationiert – und wurde in dieser Zeit als Vize-Botschafter selbst einmal einbestellt. Streitpunkt damals war das Thema Armenien. Im Aussenministerium in Ankara hätten hochrangige Diplomaten dann ein «intensives Gespräch» mit ihm geführt, erinnert sich Schweizer. Damit müsse man umgehen können, sagt er.
Mehrere Aussenpolitiker ärgern sich jedoch über die Einbestellung der zwei Schweizer Diplomaten. «Diese Reaktion der Türkei ist nicht nur eine Demütigung für den Botschafter, es ist ein Witz», sagte Roland Rino Büchel, St. Galler SVP-Nationalrat und der Präsident der Aussenpolitischen Kommission, dem «Blick». Diese Einschätzung teilt Schweizer nicht: Das sei keine Demütigung, sondern gehöre zum Beruf. Er hält auch nicht viel von einer schärferen Reaktion der Schweiz. Die Türkei ziehe im Moment eine innen- und aussenpolitische Show ab, sagt der Ex-Diplomat. «Wir sollten ihr keinen Grund geben, die Situation eskalieren zu lassen», so Schweizer. In der jüngeren Vergangenheit ist es immer wieder zu diplomatischen Verstimmungen gekommen zwischen der Schweiz und der Türkei. 2003 beispielsweise sah sich die Schweiz gezwungen, den türkischen Botschafter in Bern einzubestellen. Dies als Reaktion auf die kurzfristige Absage eines offiziellen Arbeitsbesuchs der damaligen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey in der Türkei. Die dortigen Behörden begründeten die Ausladung mit einem Entscheid des Waadtländer Kantonsparlaments, das kurz zuvor einem Vorstoss zum Völkermord an den Armeniern zugestimmt und so offiziell den Völkermord anerkannt hatte. Als erste Reaktion hatte Ankara den Schweizer Botschafter einbestellt.