Dank der Vernetzung der Waffenregister kann schneller ermitteltwerden, ob bei Verbrechen Spuren in die Schweiz führen. Das hilftErmittlern bei Anschlägen wie jenem von Berlin. Doch noch immerbestehen Lücken.
Anis Amri, der Attentäter, der einen Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt verübte, hat seine Tatwaffe vermutlich in der Schweizbeschafft. Mit dieser Recherche sorgte der deutsche Fernsehsender ZDFfür Aufregung in unserem Land. Wie die Ermittlungsbehörden zu dieserInformation kamen, ist nicht klar. Bei der deutschen Bundesanwaltschaftheisst es lediglich: «Wir verfolgen den Weg der Waffe zurück.» Bevor ereinen Lastwagen in den Weihnachtsmarkt lenkte, erschoss der TunesierAnis Amri mit einer Kleinkaliber-Sportpistole des Typs Erma einenpolnischen Lastwagenchauffeur.
Vernetzte Abfragen
Auch die Schweizer Bundesanwaltschaft (BA) will auf Nachfrageder NZZ keine Auskunft darüber geben, wie die Ermittlungen verlaufen. Es werde aber «baldmöglichst» informiert. Es spricht jedoch einiges dafür, dass der Treffer aufgrund einer sogenannten «Online-AbfrageWaffenregister» (OAWR) zustande gekommen ist. Dieser webbasierte Service ermöglicht es sämtlichen schweizerischen Polizeikorps, aber auch derBundesanwaltschaft, den Erwerber einer Schusswaffe zu eruieren. Möglichist dies aufgrund der spezifischen Seriennummer, die in jeder legalhergestellten Waffe eingraviert oder eingelasert ist und diesezweifelsfrei identifizierbar macht.
Die Ermittler hatten Glück: Diese elektronische Vernetzung aller Waffenregister der Kantone und des Bundes ist erst seit letztem Oktober in Betrieb. Früher mussten die Polizeibeamten entsprechendeInformationen langwierig über telefonische und schriftliche Anfragen andie einzelnen kantonalen Waffenbüros zusammentragen.
Die ersten Erfahrungen im polizeilichen Alltag mit dem neuenSystem sind durchwegs positiv, wie Markus Röösli, Leiter des ProgrammsHarmonisierung der Polizei-Informatik, feststellt. Das Programm wurdevom Bund und von der Konferenz der kantonalen Polizeidirektoreninitiiert: «Die Online-Abfrage bietet nicht zuletzt der Polizei selbstzusätzliche Sicherheit, indem sie sich vor einem Einsatz über eventuellvorhandene Feuerwaffen informieren kann», erklärt Röösli.
Die Behörden können folgende Informationen zentral abfragen:
■ Personalien des Erwerbers oder der Erwerberin.
■ Waffenart, Hersteller, Bezeichnung, Kaliber, Waffennummer und Datum der Übertragung.
■ Personalien der Inhaber und Inhaberinnen einer Waffentragbewilligung und Angaben daraus.
Die Zahl der Waffen, die in den verschiedenen Registernerfasst sind, ist eindrücklich. Gemäss Röösli, der bei der Kapo Zürichals Chef IT-Innovation tätig ist, können schweizweit rund 502 000 Waffen abgefragt werden. Erfasst sind zudem über 450 000 Waffenerwerbsvorgänge sowie fast 171 000 Waffenbesitzer. Darin sind die Zahlen von fünfKantonen noch nicht mit eingerechnet, die diese bis jetzt noch nichtelektronisch liefern. Darum sind die effektiven Zahlen noch höher.
Viele nichtregistrierte Waffen
Doch das gemeinsame Informationssystem weist eine grosseSchwäche auf: Vollständig erfasst wird die Geschichte einer Waffe erstseit dem 12. Dezember 2008. Vorgänge vor diesem Stichtag sind nurlückenhaft registriert. Käufe von Waffen, wie der vor Jahrzehntenhergestellten «Erma EP 552s .22 long rifle» im Besitz Amris, sindunvollständig erfasst. Der Grund: An diesem Tag trat eine Revision desWaffengesetzes in Kraft. Erst seit dann ist für den Handel unterPrivaten ein Waffenerwerbsschein nötig. Vorher bestand bloss die Pflicht zur Sorgfalt und zu einem schriftlichen Vertrag. Handänderungen mussten nicht gemeldet werden.
Folge: Geht es um die Historie einer Waffe, tappen die Ermittler bis heute häufig im Dunkeln. Weshalb im Fall von Amri gewisseAnhaltspunkte vorhanden sind, ist bis jetzt unbekannt. Wie vieleSchusswaffen noch nicht registriert sind, ist kaum zu ermitteln, da auch die Anzahl im Umlauf befindlicher Waffen lediglich auf Schätzungenberuht. Der Bundesrat geht davon aus, dass sich etwa zwei MillionenFeuerwaffen in schweizerischen Haushalten befinden.
Doch dieser «blinde Fleck» ist politisch gewollt. Vor zweiJahren haben es National- und Ständerat ausdrücklich abgelehnt, dassfrüher erworbene Waffen im Nachhinein registriert werden müssen. DerBundesrat und die Polizeikommandanten setzten sich damals vergeblich für diese Massnahme ein. Doch mit weiteren Verschärfungen des Waffenrechtsseitens der EU, die nach den jüngsten Terroranschlägen zu erwarten sind, wird der Druck von aussen auf die Schweiz zunehmen.
Der nächste Streit ums Waffenrecht steht bereits bevor
dgy. · Die Waffengesetzgebung beschäftigt die Schweiz seitzwanzig Jahren mit zunehmender Kadenz. Bis 1999 existierten aufeidgenössischer Ebene keine detaillierten Vorschriften über den Erwerbund Besitz von Waffen. Erst dann trat das eidgenössische Waffengesetz in Kraft, das bereits acht Jahre später in wichtigen Punkten verschärftwurde.
Die Waffenlobby und viele bürgerliche Politiker wehrten sichgegen die Änderungen, allerdings erfolglos: Seit 2008 muss auch derVerkauf von Schusswaffen unter Privaten registriert werden. Inzwischenzeichnet sich schon die nächste politische Auseinandersetzung ab. AlsMitgliedstaat des Schengenabkommens ist die Schweiz dazu verpflichtet,gewisse europäische Mindeststandards zu übernehmen.
Im vergangenen Dezember haben die EU-Botschafter der 28Mitgliedstaaten eine Verschärfung des Waffenrechts für Zivilistengebilligt – eine Reaktion auf die Anschläge von Paris. Diese Revisionmacht auch Anpassungen des Schweizer Waffenrechts notwendig, wobei dieDetails noch unklar sind. Zwar ist es der Schweiz gelungen, eineAusnahme unterzubringen, wonach Armeeangehörige nach dem Ende derDienstpflicht ihre Ordonnanzwaffe nach Hause nehmen dürfen –voraussichtlich allerdings nur, wenn sie sich einem Schützenvereinanschliessen. Doch selbst über diese Vorschrift dürfte in der Schweiznoch heftig gestritten werden. Wie die Bestimmungen im Detail aussehen,ist nach Angaben des Bundesamts für Polizei (Fedpol) noch unklar.Bereits ist aber aus Schützenkreisen das Referendum angekündigt.
Der lange Weg der NSU-Tatwaffe von Derendingen nach Zwickau
Mit einer tschechischen Armeepistole verübten deutsche Rechtsextremisten eine Mordserie
Wie beim tunesischen Attentäter auf dem Berliner Weihnachtsmarkt stammt auch die Tatwaffe der rechtsextremen Zelle NSU aus der Schweiz. Neun ihrer zehn Opfer wurden mit einer Ceska 83 erschossen.
Nachdem Beate Zschäpe am 4. November 2011 nach einemgescheiterten Banküberfall ihrer zwei Gesinnungsgenossen die gemeinsameWohnung mit Benzin übergossen und angezündet hatte, dauerte es noch eine Weile, bis die Fahnder auf den entscheidenden Fund stiessen. Erst nacheinigen Tagen fand die Polizei im Brandschutt im Vorgarten der Wohnungim sächsischen Zwickau eine tschechische Armeepistole, die sie aufgrundeiner rätselhaften Mordserie schon länger auf dem Radar hatte: eineCeska 83, Kaliber 7,65 Millimeter, mit verlängertem Lauf, auf dem einSchalldämpfer montiert werden konnte.
Vom anderen Ende her
Rund zwei Dutzend Stück dieses Modells waren 1993 von einemtschechischen Händler in die Schweiz eingeführt worden, der damals imsolothurnischen Derendingen ein Waffengeschäft führte. 2005, nach demsiebten von insgesamt neun Morden an türkisch- oder griechischstämmigenImmigranten, wurden die deutschen Fahnder beim tschechischenWaffenhändler in Derendingen vorstellig. Sie überprüften sämtlicheVerkäufe der entsprechenden Ceska. Bei einem Berner, einem ehemaligenPrimarlehrer, blieben sie hängen. Er soll die Armeepistole 1996 in derStadt Bern bei einem inzwischen nicht mehr existierenden Waffengeschäfterworben haben. Der Betroffene bestritt aber, die Waffe gekauft zuhaben, und sagte aus, jemand anders müsse dies unter seinem Namengemacht haben.
Sechs Jahre später, nach dem Fund der Ceska 83 im Brandschutt im Vorgarten der Zwickauer Wohnung, nahmen die deutschen Ermittler dieSpur der Waffe vom anderen Ende her auf. Zwar war die eingravierteSeriennummer, über die jede bewilligungspflichtige Waffe verfügt,abgefeilt. Doch mit einer chemischen Methode gelang es den Fahndern, die Seriennummer zu eruieren: 034678. Es war zweifelsfrei die Tatwaffe derbis dahin ungelösten Mordserie an neun Immigranten.
Die Tötungsdelikte gehen auf das Konto der rechtsextremen ZelleNationalsozialistischer Untergrund (NSU). Die beiden Haupttätererschossen sich nach dem gescheiterten Banküberfall 2011. Das dritteNSU-Mitglied, Beate Zschäpe, steht in München seit bald vier Jahren vorGericht. Im Laufe dieses Prozesses konnte der Weg der Tatwaffezurückverfolgt werden. Er führt zunächst in ein Szenelokal fürRechtsextreme in Jena, wo unter dem Ladentisch Waffen zu bekommen waren. Ein Deutscher gestand, die Waffe im Auftrag gekauft und an die zweiinzwischen toten Mitglieder des NSU überbracht zu haben.
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Und wie war die Ceska unter den Ladentisch des JenaerSzenelokals gelangt? Aufgrund von Angaben des Ladenbesitzers konnte dieKette um zwei Glieder ergänzt werden. Es handelt sich jeweils umDeutsche aus dem kriminellen Umfeld. Einer von ihnen verbringt dieFerien regelmässig mit einem Schweizer, der vorübergehend in den OstenDeutschlands ausgewandert war. In der Nähe von Jena hatte der Schweizereinen Auto-Abschleppdienst betrieben.
Und mit ihm schliesst sich die Kette in die Schweiz: Dervorübergehend ausgewanderte Schweizer ist ein Militärdienst-Kollegejenes ehemaligen Berner Primarlehrers, den die deutschen Fahnder bereits 2005 im Visier hatten. Er soll sich Waffenerwerbsscheine beschafft undan den Dienstkameraden verkauft haben. Das Strafverfahren gegen die zwei Schweizer wurde 2014 eingestellt. Es konnte ihnen kein direkter Kontakt zum NSU nachgewiesen werden.