JACQUES CHESSEX UND DER JUDENMORD VON PAYERNE

Das Magazin: Vermisstmeldung: Der jüdische Viehhändler Arthur Bloch verschwand 1942 in Payerne im Kanton Waadt. Eine antisemitische Bande aus dem Dorf hatte ihn ermordet.

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Es erscheint wie ein Fluch, ein unerklärliches Unvermögen, eine Fatalität, die sich zwanghaft wiederholt. Die Schweiz hat sich in zähen Anläufen immer wieder mit ihrer Weltkriegsvergangenheit auseinandergesetzt, mit der militärischen Widerstandsstrategie gegen Nazideutschland, mit der wirtschaftlichen Kooperation, mit dem Goldhandel, der Flüchtlingspolitik, von der allgemein anerkannt wird, dass sie kein Ruhmesblatt war. Die vom Bundesrat eingesetzte Kommission «Schweiz – Zweiter Weltkrieg» unter Jean-François Bergier schuf schliesslich eine Mammut-Dokumentation von 25 Bänden, auf äusseren Druck zwar, aber so gründlich und umfassend, wie kein anderes Land das geleistet hat. Eines aber hat sich kaum geändert: Noch immer zieht die Schweiz es vor, wenn sie kann, von den dunklen Seiten ihrer Vergangenheit zu schweigen. Noch immer tut man sich schwer damit zu benennen, was gewesen ist. Verdrängung ist beharrlich.

Das zeigte sich nun auch am Filmfestival von Locarno. «Ein Jude als Exempel» ist die Adaptation eines der wichtigsten Bücher von Jacques Chessex, dem bedeutendsten Westschweizer Romancier seiner Generation, dem einzigen Romand, dem je der Prix Goncourt, der prestigeträchtigste französische Literaturpreis, zugesprochen wurde. Der Film setzt ein Buch um, das bei seinem Erscheinen im Jahr 2009 in Frankreich ein spektakulärer Erfolg war und in der Romandie seinen Autor heftigsten Anfeindungen aussetzte. Noch im selben Jahr verstarb Chessex unvermittelt. Er brach tot zusammen, nachdem er bei einer öffentlichen Lesung in Yverdon von einem Teilnehmer beschimpft worden war.

Es hätte mehr als genug Gründe gegeben, den Film in Locarno im Wettbewerb laufen zu lassen. Doch weit gefehlt: Selbst an dem Filmfestival, das ja das Image pflegt, sich vor sperrigen Themen nicht zu scheuen, wurde «Ein Jude als Exempel» ins Nebenprogramm verbannt.

Die Geschichte, die Chessex in seinem Roman erzählt, ist simpel. Es geht um die Ermordung eines jüdischen Viehhändlers im Jahr 1942. Es ist nicht bestritten, wie die geschilderten Ereignisse sich historisch zugetragen haben. Aber sie haben den Schriftsteller sein Leben lang so belastet und verstört, dass er erst im hohen Alter in der Lage war, aus dem Stoff einen extrem verdichteten, fulminanten Roman zu schöpfen.

Es gab während der Nazizeit in der französischen Schweiz eine relativ überschaubare Zahl aktiver Hitler-Sympathisanten. Aber es gab sie. In Genf trieb in den Dreissigerjahren der Journalist und glühende Antisemit Georges Oltramare sein Unwesen – zeitweilig war er auch Mitglied des Genfer Kantonsparlaments. Während des Krieges bot die deutsche Gesandtschaft einigen Agitatoren diskrete finanzielle Unterstützung. 1942 kam es dann im ländlich-idyllischen Payerne, im Herzen des Pays de Vaud, zum Mord an Arthur Bloch, einem jüdischen Viehhändler, der auf dem dortigen Markt Geschäfte tätigte. Eine Bande randständiger junger Männer – angeführt von Fernand Ischi, einem Mechaniker der örtlichen Autogarage, und indoktriniert vom ehemaligen Pfarrer und fanatischen Nazi Philippe Lugrin – wollte ein Zeichen setzen. Der Mord sollte die Juden einschüchtern, den Antisemitismus anheizen – und die Täter dem Führer empfehlen, von dem sie überzeugt waren, dass er bald über die Schweiz herrschen werde, genau wie über das übrige Kontinentaleuropa.

Das Verbrechen wurde in wenigen Tagen aufgeklärt. Alle in den Mord verwickelten Personen wurden schnell gefasst und zu langen Haftstrafen verurteilt, ausser Philippe Lugrin, der fliehen konnte und erst bei Kriegsende in Deutschland verhaftet wurde. Arthur Blochs Grab befindet sich bis heute auf dem jüdischen Friedhof von Bern.

Warum hatte Jacques Chessex an diesem Mord, der zwar abscheulich und symbolträchtig war, aber nicht mehr als eine Episode der Zeitgeschichte darstellt, so schwer zu tragen? Zunächst wohl, weil er biografisch darin verstrickt war. Chessex verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Payerne, sein Vater war Direktor des Collèges, das von einigen der Täter besucht wurde. Als achtjähriger Bub sass er in der Primarschule neben der ältesten Tochter des Rädelsführers der Bande. Es ist natürlich blosser Zufall, aber es sagt viel aus über die Kultur und die Identität der kleinräumigen Romandie, dass einer ihrer grössten Schriftsteller gemeinsam aufgewachsen ist mit den Kindern der Mörder. Das Verbrechen an Arthur Bloch gehört zu Chessex’ eigener Geschichte. Er schreibt nicht aus historischer Distanz – und schon gar nicht, um sich über die Täter zu erheben. Er gleitet von der objektiven dritten Person zum ambivalenten «man» und schliesslich zum ungeschminkten «wir». Die Ermordung des Juden Bloch erzählt er als die Geschichte des Waadtlandes, mit dem er selber verbunden ist bis in die letzte Faser seiner Person.

Ein Heimatdichter ohne verklärten Blick

Chessex hat die Waadt nie verlassen – auch nicht, als ihm in Frankreich alle Türen aufgingen. Die Pariser Literatenszene, die er so beeindruckte, übergoss er immer wieder mit beissendem Hohn. Fast alle seine Romane spielen in der Romandie, zwischen Fribourg und Lausanne. Sein Lebensthema sind Calvin und der Protestantismus, das Sündenbewusstsein und die Revolte dagegen. Er ist ein verzweifelter Gottessucher und ein obszöner Blasphemiker. Er schreibt eine reduzierte Prosa, die etwas Monumentales hat. Chessex steht zwar unter dem Einfluss der französischen Avantgarde, der objektivistischen Poesie von Francis Ponge und der Sachlichkeit des Nouveau Roman. Aber auch vom Waadtländer Dialekt ist seine Sprache stark geprägt. Schon sein Vater hat Werke zur Lokalgeschichte und Dialektkunde verfasst. Chessex ist eine Art moderner Heimatdichter, ohne jedoch die Heimat zu verklären. Das Waadtland hat sich immer wieder schwer damit getan, seinem Dichter das zu verzeihen.

Mit sicherem Strich wird in «Der Jude als Exempel» die Idylle von Payerne zu Kriegszeiten skizziert. Das Städtchen lebt vom Vieh, vom Tabak und von der Schweinemast. «Schwein in jeglicher Gestalt, Speck, Schinken, Schweinefüsse, Schweinshaxen, Rauchwurst, Kabis- und Leberwurst, Kopfsülze, geräucherte Rippchen, Pastete, Schweineohr und Adrio, im krönenden Wahrzeichen des Schweins wirkt das Städtchen gutmütig und zufrieden. Mit hiesigem Bauernhumor nennt man die Payerner ‹rote Schweine›. Doch verborgen unter Sicherheit und Geschäften gibt es dunkle Energien. Die Gesichter sind rosig und gerötet, die Böden fett, doch Bedrohliches lauert in allen Ritzen.»

Die Bedrohung entspringt dem Ressentiment. Denn auch in Payerne – trotz der Ländlichkeit und der Ferne des Geschützdonners – haben Fabriken schliessen müssen, ist die Wirtschaftskrise spürbar, stehen 500 Angestellte auf der Strasse. Und obwohl es keinen mit Nazideutschland vergleichbaren Antisemitismus gibt, ist doch auch im protestantischen Pays de Vaud die Judenfeindlichkeit aktivierbar. «Wer ist schuld? Die Dicken. Die Betuchten. Die Juden und die Freimaurer.» Der Payerner würde dieses Ressentiment freilich nie vor sich hertragen: «Hier lebt man im Verschwiegenen, kichernd, hinter vorgehaltener Hand.» Aber schaut mal, was sie anderswo mit den Juden machen! Da kommt man auf Ideen.

Chessex – geschrieben mit SS-Runen

Und so geschieht es, dass Payerne zum Schauplatz eines Mordes wird. Die Täter erschlagen Bloch in einem Stall, und da unter ihnen Bauern sind, haben sie das Schlachtgerät zur Hand, um die Leiche zu beseitigen. Sie zerlegen den Körper ihres übergewichtigen Opfers fachgerecht und füllen ihn ab in drei Milchkannen, die sie im nahen Neuenburger See versenken. Genauer: Sie füllen die Leichenteile in «Milchchante», wie man mit dem schweizerdeutschen Ausdruck für die grossen Metallbehälter sagen würde, in denen die Milch vom Hof in die Molkerei gebracht wird. Chessex benutzt die Bezeichnung «boilles», das gängige Westschweizer Dialektwort.

Diese «boilles» tauchen in der Rahmenhandlung auf, die Jacob Berger seiner Kinoversion gegeben hat. Er schildert aber auch die hasserfüllten Reaktionen, die Chessex entgegenschlugen, nachdem «Ein Jude als Exempel» publiziert worden war: Am Karnevalsumzug von Payerne wurde auf einem Wagen eine blutverschmierte Milchkanne mitgeführt, aus der Knochen ragten. Beschriftet war sie mit «Chessex», wobei die «s» als SS-Runen geschrieben waren. Wenigstens symbolisch sollte dem Schriftsteller, der an den Judenmord von Payerne erinnert hatte, offenbar dasselbe Schicksal widerfahren wie dem damaligen Opfer. Chessex machte den Vorschlag, mit einer Plakette auf dem Marktplatz an Arthur Bloch zu erinnern. Der Vorschlag wurde zurückgewiesen.

Doch nun kommt Jacob Bergers beeindruckender Film in die Kinos, der nicht nur das Verbrechen nacherzählt, sondern auch ein bewegendes Bild zeichnet von dem in der Deutschschweiz viel zu wenig bekannten Jacques Chessex. Auf den letzten Seiten seines Romans heisst es: «Es kommt vor, dass der alte Schriftsteller, der diese Geschichte als kleiner Junge in seiner nächsten Umgebung erlebt hat, mitten in der Nacht geplagt und verletzt aufwacht. Dann glaubt er, jenes Kind zu sein, das er damals war und das den Seinen bohrende Fragen stellt. Es fragt, wo der Mann sei, den man ganz in der Nähe ermordet und zerstückelt habe. Es fragt, ob er wiederkomme. Und wie man ihn empfangen werde.»

DANIEL BINSWANGER ist Redaktor bei «Das Magazin»; daniel.binswanger@dasmagazin.ch

«Un Juif pour l’exemple» mit Bruno Ganz. Regie: Jacob Berger, Kinostart 15. September.