CVP-Präsident Gerhard Pfisterhat in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» behauptet, der Islam gehöre nicht und das Judentum gehörte nur «indirekt» zur Schweiz. Das ist eine ebenso indiskutable wie typische Bemerkung. Ich möchte sie zum Anlass nehmen, an das lange Ringen der Juden um die Gleichberechtigung in der Schweiz zu erinnern.
Am 14. Januar 1866 waren die Schweizer Männer erstmals aufgefordert, über eine Teilrevision der Bundesverfassung abzustimmen. Bei deren beiden Hauptvorlagen ging es darum, die auffälligsten Mängel der Bundesverfassung von 1848 zu beheben: die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und der Rechtsgleichheit sowie der Glaubens- und Kultusfreiheit auf Christen. Auslöser der Revision war ein Handelsvertrag mit Frankreich, der französischen Juden jene Niederlassungsfreiheit gewährte, die den schweizerischen Juden vorenthalten wurde.
Nichtchristen unerwünscht
Vor diesem Hintergrund erklärt es sich, dass die Niederlassungsfreiheit mit 53,2 Prozent Ja-Stimmen und 12½ gegen 9½ Stände relativ deutlich angenommen, die Glaubensfreiheit aber mit 49,5 Prozent Ja-Stimmen und einem Ständepatt – wenn auch knapp – abgelehnt wurde.
Alle fünf Zentralschweizer Kantone schickten die Ausweitung der Religionsfreiheit auf Nichtchristen bachab, und zwar mit zusammengerechnet 25’217 Nein gegen 5390 Ja. Während der durchschnittliche Ja-Anteil bloss 18 Prozent betrug, erreichte er in Obwalden jedoch 49 Prozent.
Eine vierjährige Kampagne
Die schweizweit angenommene Niederlassungsfreiheit für Juden kam in der Zentralschweiz auf nur 20 Prozent. In Obwalden wurde die Vorlage allerdings angenommen – mit 782 gegen 686 Stimmen. Laut der eidgenössischen Volkszählung von 1860 gab es in den fünf Orten 15 Juden, davon 14 im Kanton Luzern, von ihnen 12 in der Stadt. Die damalige Zentralschweiz ist der klassische Fall eines Antisemitismus ohne Juden.
Die Höhe der Ablehnung der Niederlassungs- und der Glaubensfreiheit in der Zentralschweiz lässt sich nur erklären mit der vierjährigen Medien-, Kanzel- und Parteikampagne, die der Abstimmung vorausgegangen war. Das bestätigt auf frappante Art und Weise der Ausnahmefall Obwalden. In diesem Halbkanton dominierte 1862 bis 1870 mit der «Obwaldner Zeitung» ein Blatt, das sich beherzt für die Gleichberechtigung der Juden einsetzte.
Weiter hatte Obwalden bis 1870 die gemässigtste Geistlichkeit in der Zentralschweiz. Von den Zeitgenossen aller Couleur wurde das auffällige Obwaldner Ja mit der offeneren oder neutraleren Haltung der meisten Dorfpfarrer erklärt. Schliesslich dominierte in den 1860er-Jahren in Obwalden unter Führung von Regierungs- und Ständerat Niklaus Hermann eine Gruppe von Politikern, die in den Worten von Historikerin Heidi Bossard «liberalisierend» waren.
Gleichberechtigung der Juden jubelnd abgelehnt
Den Gegensatz zu Obwalden bildete Nidwalden. In keinem Gebiet der Schweiz war die Anhänglichkeit an den Papst und an den Kirchenstaat derart stark wie hier – also die Ausrichtung auf die geistliche Macht jenseits der Berge im Vatikan. Das ultramontane Nidwalden hatte 1866 an der Landsgemeinde, die für das Standesvotum zuständig war, die Gleichberechtigung der Juden «ohne Gegenantrag mit einstimmigem Jubel», wie die «Schwyzer Zeitung» berichtete, bachab geschickt.
An den Bezirksgemeinden wurden die Niederlassungsfreiheit im Verhältnis von 16:1 und die Glaubensfreiheit im Verhältnis von 18:1 verworfen. Ein Vergleich von Nid- und Obwalden bestätigt die These des deutschen Historikers Olaf Blaschke: Je höher der Ultramontanisierungsgrad sei, desto intensiver werde der Antisemitismus.
«Die Juden passen nicht zu uns»
Um die schweizerische Judenfeindlichkeit des 19. Jahrhunderts wie auch des 20. Jahrhunderts richtig zu verstehen, müssen wir uns lösen von der Vorstellung einer Zweiteilung in traditionellen Antijudaismus und modernen Rassen-Antisemitismus. Es gibt etwas Drittes, das dem Rassismus vorausgegangen ist: den christlich-nationalistischen Antisemitismus, der die Juden aus der Nation, aber nicht aus der Menschheit ausgrenzte.
Wer diesen Dreischritt nicht denkt, läuft Gefahr, den schweizerischen Antisemitismus zu verharmlosen als blosse Fortsetzung des traditionellen Antijudaismus. Oder ihn zu wenig zu unterscheiden von jenem Biologismus, den die Nazis zum eliminatorischen Antisemitismus radikalisierten.
Speerspitze des christlichen Nationalismus war der Piusverein, getauft nach Papst Pius IX. Seine erste grosse und erfolgreiche Kampagne war die Bewegung gegen die Judenemanzipation, also gegen die Bürgerrechte für die Lengnauer und Endinger Juden im Aargau in den Jahren 1862/63. Der Führer der Aargauer Antisemiten war Johann Nepomuk Schleuniger. Der ehemalige Sonderbundsaktivist begründete den Ausschluss der Juden aus der Nation mit folgender Kurzformel: «Die Juden passen nicht zu uns als Mitbürger und Mit-Eidgenossen», sagte er. «Die Juden passen geschichtlich, gesellschaftlich und politisch nicht zu den Schweizern.»
«Die Schweiz istein Vaterland der Christen.»Johann Nepomuk Schleuniger
Die Schweiz sei geschichtlich ein Vaterland der Christen.Nachdem die Emanzipation der Juden im Aargau gescheitert war, schrieb der Schwyzer Alt-Landammann Nazar von Reding-Biberegg 1863 an den Führer der Schweizer Konservativen, Philipp Anton von Segesser, folgende Anregung: «Könnten die Konservativen in der Judengeschichte nicht einen Hebel finden, um das Schweizervolk weit herum gegen die Bundesbehörden in Bewegung zu setzen und damit auf die bevorstehenden Nationalratswahlen einzuwirken? Mit dieser Frage liesse sich vielleicht mehr machen als mit keiner anderen der Zukunft.»
Segesser hatte die Aargauer Judengegner dafür gelobt, «dass kräftige, altschweizerische Gesinnung ihnen höher steht als neumodisches Humanitätsgewinsel».In der nationalrätlichen Debatte zum Handelsvertrag mit Frankreich vom 21. September 1864 stellte Segesser die Gefahren, die seitens der Juden drohten, in den Mittelpunkt: «Ihr Hass gegen die christliche Gesellschaft ist ebenderselbe geblieben, aber ihre Macht ist unendlich gewachsen. Sie sitzen an den Stufen der Throne, die ihnen verpfändet sind, sie beherrschen die Eisenbahnen und die grossen Geldinstitute, die auf ihrem Reichtum ruhen, sie geben den Ton an in der Tagespresse und in der Literatur, sie dringen in die höchsten wie tiefsten Schichten des socialen Lebens ein und der Zweck, den sie selbstbewusst verfolgen, ist die Zerstörung der christlichen Gesellschaft, Zerstörung der christlichen Civilisation.»
«Jude» als Unwort
Segesser, der damals zusätzlich Regierungsrat in einer mehrheitlich liberalen Exekutive war, machte aus dem Handelsvertrag mit Frankreich einen «Judenvertrag», aus der zu revidierenden Bundesverfassung den «Judenbund», aus den neuen Artikeln «Judenartikel».
Damit schloss sich Segesser einer Sprache an, die sich in den Zentralschweizer Medien verbreitet hatte und höchst wirksam war. So bezeichnete die «Schwyzer Zeitung» die Aargauer Freisinnigen als «Judenliebhaber», «Judenpartei», «Judenfreunde». Und dem Hauptautor des «Judenbeschlusses», Augustin Keller, wurde vorgeworfen, sich für den «Verrat an seinem katholischen Volk» mit dem «Judassolde» abzufinden.
Gegen die «Verjüdelung»
Der «Zuger Bote» brachte es fertig, in einem Artikel gegen den Bundesbeschluss vom Juli 1863, der dem Aargau die Gewährung der politischen Rechte für Juden diktierte, eine lange, lange Liste schwer diffamierender Ausdrücke unterzubringen: «Schmulchen», «Jüdelchen», «Judencharakter», «Judenpfeifen», «Judenpfütze in Palästina», «Judenfrage», «Judenstrom», «jüdische Milchkuh», «Hebräerkinder», «Abrahams Grosskinder», «Judas», «geldgierige und falsche Juden». Als hätte das nicht genügt, wurden diese Begriffe mit Satzteilen angereichert wie «umduftet von Knoblauch und Zwiebel und umjüdelt von den Stämmen Israels». («Knoblauch» war ein häufig gebrauchtes Schmähwort für Judentum.)
Die «Schweizerische Kirchenzeitung», eine wichtige Grundlage für Predigten, prägte den Begriff «Verjüdelung», wetterte gegen «Judenblätter» wie den «Schweizerboten» und die «Neue Zürcher Zeitung» und warnte vor dem «beschnittenen und unbeschnittenen Judenvolk». Mit Letzteren waren die Befürworter der Emanzipation gemeint.
Es war Theodor Scherer-Boccard – ein ehemaliger Sekretär des Sonderbundes, der 1852 vom Papst in den Grafenstand erhoben worden war –, der in seiner Doppelrolle als Präsident des Piusvereins und Redaktor der «Kirchenzeitung» im April 1863 die Kampagne gegen die Gleichberechtigung der Juden auf Bundesebene eröffnet hatte. Sein Artikel trug den Titel: «Muss die Schweiz verjüdelt werden?»
Doch noch ein säkularer Bundesstaat
Die dualistische Trennung der Welt in «Gottesfürchtige» unter Führung des Papstes und «Ungläubige» unter «Curatel» der «Gottesmörder» wurde von keinem derart brillant konkretisiert und illustriert wie vom Nidwaldner Geistlichen Remigius Niederberger. Er war Stanser Pfarrer, bischöflicher Kommissar, Vizepräsident des Piusvereins. Vor allem aber war Niederberger ein mitreissender Redner, insbesondere an der Landsgemeinde, und Bestsellerautor.
In seinem Nidwaldner Kalender 1866 schrieb er über das Bundeshaus, das er 1865 besucht hatte, dieses habe einen «ganz eigenen Geruch». Und dieser könnte «auch von dem Chloroform herrühren, mit welchem man das Schweizervolk in Schlaf gelegt, als man ihm ein paar Tausend Juden und andere Christenfeinde einokulieren wollte».Trotz aller Hetze gegen Juden konnten sich die Ansichten der Zentralschweizer Antisemiten letztlich nicht im ganzen Land durchsetzen. Im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung 1874 wurde die Glaubensfreiheit verwirklicht und damit verbunden die Entflechtung von Staatlichkeit und religiöser Zugehörigkeit verwirklicht und damit verbunden das Judentum symbolisch anerkannt. Erst mit der Emanzipation der Juden wurde die Schweiz zu einem säkularen Bundesstaat.
Der Historiker, Jahrgang 1954, war 1982 bis 2004 Zuger Stadt- und Kantonsparlamentarier und 2003 bis 2011 grün-alternativer Nationalrat. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Kulturkampf, Katholizismus und Antisemitismus.
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 17.10.2016, 21:23 Uhr)