Die Wochenzeitung: Mehrere Tausend Neonazis besuchten letztes Wochenende das Konzert «Rocktoberfest» in Unterwasser SG. Dabei sind bis zu 200 000 Euro für die Organisatoren zusammengekommen. Das Geld fliesst sehr wahrscheinlich in neonazistische Strukturen in Thüringen.
Von Jan Jirát
In Ballstädt, einem 700-EinwohnerInnen-Dorf in Thüringen, überfielen im Februar 2014 fünfzehn Neonazis – vermummt und mit Schlaghandschuhen ausgerüstet – eine Kirmesgesellschaft. «Nur zwei Minuten dauerte der Angriff. Zurück blieben zehn verletzte Jugendliche, mit Platz- und Risswunden, zersplitterten Zähnen und Schädelhirntrauma», beschreibt die deutsche «tageszeitung» («taz») den Überfall. Kommende Woche findet am Landgericht der Thüringer Landeshauptstadt Erfurt eine weitere Verhandlung im sogenannten Ballstädt-Prozess statt, der dieses Ereignis juristisch aufarbeitet. Die Staatsanwaltschaft wirft den Neonazis dabei «gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung» vor. Einige der Nazischläger leben bis heute in Ballstädt, im «Gelben Haus», einer bekannten Neonazi-WG. Als Haupttäter des brutalen Überfalls muss sich Thomas Wagner vor Gericht verantworten: ein 41-jähriger Neonazi aus Gotha, Veteran der Thüringer Neonazimusikszene und wegen eines Überfalls und gefährlicher Körperverletzung vorbestraft.
Dieser Thomas Wagner ist laut einer gut informierten Quelle bereits am Freitag in die Schweiz eingereist. Ob er am Samstag im toggenburgischen Unterwasser mit 5000 bis 6000 Gleichgesinnten das «Rocktoberfest» besucht hat, will er auf Anfrage nicht bestätigen. Der Anlass war eines der grössten je in Westeuropa organisierten Neonazikonzerte mit den zurzeit angesagtesten Szenebands. Dabei ging es sehr wahrscheinlich um eine Spendenaktion, nicht zuletzt, um die Ballstädter Prozesskosten zu decken und die Zukunft des «Gelben Hauses» in diesem Ort zu sichern, das lokale Neonazis vor drei Jahren für schätzungsweise 165 000 Euro gekauft haben. Dies zeigt eine Recherche der WOZ in Zusammenarbeit mit der Antifa Bern, der Autonomen Antifa Freiburg im Breisgau sowie dem antifaschistischen Rechercheblog «Thüringen rechtsaussen».
Gruss von der «Reichsmusikkammer»
«Vom Verkehrsdienst über die Abfallentsorgung bis zum Sicherheitsdispositiv hatte der Veranstalter alles mustergültig organisiert», sagte die St. Galler Kantonspolizei über die Organisation des «Rocktoberfests» in der Tennishalle von Unterwasser. Das sagen auch der Gemeindepräsident Rolf Züllig sowie der Hallenvermieter Beat Frischknecht.
Die zum Teil in der Schweiz wohnhaften Organisatoren des Neonazikonzerts wussten ganz genau, was sie taten. Einer davon ist Matthias Melchner aus Rüti im Zürcher Oberland. Der 29-Jährige hat den Anlass bei der Gemeinde angemeldet – als Konzertabend mit jungen Schweizer Bands und 600 bis 800 erwarteten ZuschauerInnen. Melchner arbeitet im «Barbarossa Tattoo» in Rapperswil-Jona, einem Tätowierstudio, in dem sich einschlägige Neonazis aus dem Raum Zürich gerne etwas stechen lassen. Im Mai 2014 hat «Barbarossa Tattoo» auf Facebook zur Solidarität mit den «Jungs aus Ballstädt/Thüringen» aufgerufen. Melchner stammt aus Thüringen, er war dort vor etwa zehn Jahren Mitglied der neonazistischen «Kameradschaft Zella-Mehlis». Es ist überliefert, dass er mehrmals im «Gelben Haus» zu Besuch war. Schliesslich liegt der WOZ ein Mailverkehr zwischen Melchner und einer führenden Figur der neonazistischen Vereinigung Hammerskins vor, in dem der Thüringer um Unterstützung bei der Produktion von «Soli-Shirts» für die im Ballstädt-Prozess angeklagten Neonazis bittet. Melchner wollte auf Anfrage nicht über seine Rolle beim «Rocktoberfest» reden.
Auch eine zweite Spur führt nach Thüringen: zu David Heinlein aus Saalfeld. Er stellte seine Kontodaten für den Kauf der Eintrittskarten fürs «Rocktoberfest» zur Verfügung, gezeichnet war das Schreiben mit einem Gruss der «Reichsmusikkammer». Heinleins Kontodaten tauchten nicht zum ersten Mal im Zusammenhang mit einem Neonazikonzert auf.
Melchner und Heinlein könnten allerdings nur Strohmänner sein. Die Antifa-Gruppen vermuten Steffen Richter als zentrale Figur hinter dem «Rocktoberfest». Der Saalfelder Neonazi, der in mehrere Neonazikonzertveranstaltungen in Thüringen involviert war, gilt als einer der engsten Vertrauten von Ralf Wohlleben. Dieser gehörte zum engsten Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), der Ende der neunziger Jahre aus der neonazistischen Vereinigung «Thüringer Heimatschutz» hervorging und mutmasslich für eine Mordserie an MigrantInnen verantwortlich ist. In den NSU-Prozessen ist Wohlleben wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen angeklagt.
Finanzierung und Rekrutierung
Vor solchem Hintergrund wirken die behördlichen Aussagen über die «gute Organisation des Anlasses» und den «friedlichen Ablauf» merkwürdig, und wenn Sven Bradke, Parteivorstand der St. Galler FDP, sagt, es habe «ja sogar noch Tourismuseinnahmen» gegeben, ist das mehr als zynisch, denn im Kern ging es beim «Rocktoberfest» um die Beschaffung von Geld für bestehende neonazistische Strukturen – Immobilien, Tonstudios, Musikproduktion, Prozesskosten. Das sind Strukturen, die nachweislich für gewalttätige Angriffe und Brandanschläge auf Asylunterkünfte gebraucht werden.
Das «Rocktoberfest» mit seinen bis zu 6000 BesucherInnen dürfte den Organisatoren mindestens 200 000 Euro eingebracht haben. Es ist bekannt, dass die Eintrittskarten 30 Euro kosteten, Bier gab es für 3,50 Euro, eine Wurst mit Semmel für 5 Euro. In der Tennishalle waren zudem Merchandisingstände mit T-Shirts aufgebaut. Selbst nach Abzug der Kosten für die Bands, die Saalmiete und die Logistik sind enorme Summen in den Kassen der Organisatoren verblieben. Auch der am «Rocktoberfest» beteiligte Rechtsrockversandhändler Black Elite dürfte massiv profitiert haben.
Neben der Finanzierung von neonazistischen Strukturen erfüllen Konzerte wie jenes in Unterwasser zwei weitere Funktionen, die für die Szene überlebenswichtig sind: Sie dienen der Vernetzung und der Rekrutierung von Nachwuchs. «Solche Konzerte sind wichtig, um Ideologie zu vermitteln und Junge an die Szene zu binden. Gerade in abgehängten Regionen, wo es an Angeboten, Treffpunkten und Perspektiven für Jugendliche fehlt, haben es Neonazis leichter, mit Rechtsrock junge Menschen zu ködern», sagt Valerie Kaufmann vom Blog «Thüringen rechtsaussen». Jan Raabe vom Verein «Argumente und Kultur gegen rechts» ergänzt: «Für die Szene, die in einigen Bundesländern Schwierigkeiten hat, Konzerte durchzuführen, ist das ein Sieg. Sie haben die Behörden getäuscht und konnten ohne Störung feiern. Das gibt der Szene Aufwind und Selbstvertrauen.»
Mit dem «Rocktoberfest» hat die neonazistische Szene also enorm viel Geld und Prestige gewonnen – vor den Augen der Schweizer Behörden, die den Anlass nicht verhindern konnten.
Die Rolle der Behörden
Wer was wann wusste
Gemäss einem Bericht des «St. Galler Tagblatts» hat der Schweizer Geheimdienst (NDB) am Dienstag letzter Woche «alle Schweizer Kantonspolizeien informiert, dass in der Schweiz mit einem solchen Konzert zu rechnen ist». Gian Andrea Rezzoli, Sprecher der St. Galler Kantonspolizei, bestätigt diesen Sachverhalt.
Die Kantonspolizei St. Gallen hatte folglich vier Tage Zeit, um entsprechende Abklärungen vorzunehmen. Sie hätten mehrere Gemeinden angefragt, die als Veranstaltungsorte infrage gekommen seien, sagte Polizeisprecher Rezzoli gegenüber Radio SRF, Unterwasser sei aber nicht darunter gewesen. Dabei ist die dortige Tennishalle ein überregional bekannter Eventort, und das Toggenburg war vor drei Jahren schon einmal Schauplatz eines Neonazikonzerts, das Leute aus dem Umfeld der Blood-and-Honour-Sektion aus dem Zürcher Oberland in Ebnat-Kappel organisiert hatten. Schon damals liess die Kantonspolizei die Neonazis gewähren und betonte im Nachgang, es sei alles friedlich abgelaufen. «Wäre auf die Informationen des NDB eine saubere Polizeirecherche erfolgt, dann hätte man mit hoher Wahrscheinlichkeit herausfinden können, wo das Konzert stattfindet», meint der grüne Nationalrat Balthasar Glättli.
Am Samstag selbst erfuhr die Polizei bereits um 15 Uhr, wiederum vom NDB, dass das Neonazikonzert in Unterwasser stattfinden wird. Zu dieser Zeit wussten das viele Nazis selber noch nicht. Die Hotline der Neonazis, über die man den Veranstaltungsort erfahren konnte, war erst um 16.30 Uhr freigeschaltet, wie mittlerweile bekannt ist. Es war folglich für die Polizei genug Zeit vorhanden, um zu reagieren und zumindest die Dokumentation des Konzerts vorzubereiten. Am Abend habe dann aber nur der Einsatzleiter «zwei, drei Blicke in die Tennishalle geworfen», sagt Rezzoli. Sonst seien keine BeamtInnen in der Halle gewesen, denn «hineinzugehen wäre aufgrund der vielen Leute taktisch unklug gewesen». Ausserhalb der Halle waren keine Verstösse gegen das Antirassismusgesetz festzustellen. «Eine Veranstaltung mit mehreren Tausend Menschen ist keine Privatveranstaltung», sagt Balthasar Glättli. Die Polizei hätte seiner Ansicht nach aktiv versuchen müssen, Verstösse gegen das Antirassismusgesetz zu dokumentieren und dann auch zu ahnden.