Thurgauer Zeitung: Er ist der bekannteste und umstrittenste Tierschützer der Schweiz: Erwin Kessler feiert am 29. Februar seinen 70. Geburtstag. Im Interview sagt er, dass er sich manchmal wie im Partisanenkrieg fühlt, und er erklärt, warum er mit anderen Tierschutzorganisationen nicht viel am Hut hat.
Sind Sie einsam, Herr Kessler?
Erwin Kessler: Ich bin nicht einsam. Ich habe einen kleinen Kreis von Freunden. Der Stammtisch-Typ war ich noch nie.
Sie werden 70. Wären Sie nicht manchmal gerne nur ein Tuttwiler, der bei allen beliebt ist?
Kessler: Nein. Ich war immer introvertiert und intellektuell. Das war in meiner Jugend fast schon auffällig. Ich fühle mich nicht isoliert. Ich leide nur, wenn jemand meine Arbeit behindert.
Ihre Arbeit, das sind 25 Jahre Verein gegen Tierfabriken. Was haben Sie konkret erreicht?
Kessler: Diese Frage stelle ich mir nicht mehr. Ich erwarte auch keinen Erfolgsbarometer. Es sieht manchmal aus, als hätte es gar nichts gebracht. Ich denke aber, ich habe das Bewusstsein für die Qualen der Nutztiere geschärft und diesen Holocaust sichtbar gemacht. Das ist bei Massenverbrechen häufig so, dass die Gesellschaft selber dies gar nicht merkt.
Sie setzen die Nutztierhaltung mit den Verbrechen an Menschen im Dritten Reich gleich?
Kessler: Ich mache bei der Leidensfähigkeit keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Wer diesen Unterschied macht, offenbart ein ethisches Defizit. Er unterteilt in wertvolles und nicht wertvolles Leben. Das haben auch die Nazis getan.
Die Schweizer gelten aber als sehr tierliebes Volk.
Kessler: Einem Hund würde man das nie antun. Aber wie Hühner, Schweine und Kühe gehalten werden, ist ein Elend. Das sind nicht nur ein paar Einzelfälle. Aber die Mehrheit der Bevölkerung will das nicht sehen. Wenn man die Wahrheit abbildet wie wir in den «VgT-Nachrichten», dann macht man sich unbeliebt.
Würden Sie nicht mehr erreichen, wenn Sie weniger extrem wären?
Kessler: Ich muss provozieren. Es ist mir lieber, man regt sich auf, als dass man das Leiden der Tiere gar nicht zur Kenntnis nimmt.
Sie stossen Menschen vor den Kopf.
Kessler: Ich weiss, dass ich das Richtige mache. Ich bin kein Herdentier. Und wenn die Herde mich nicht will, dann gehe ich eben alleine.
Waren Sie immer so radikal?
Kessler: Nein, ich bin eigentlich der wissenschaftliche Typ. Anfangs habe ich gedacht, es reicht, wenn ich eine Abhandlung über die Tierfabriken schreibe. Passiert ist aber nichts.
Fing es so an mit dem Verein gegen Tierfabriken?
Kessler: Angefangen hat es mit einem Leserbrief gegen das Enthornen der Kühe. Darauf habe ich ein riesiges Echo erhalten. Da habe ich gedacht, ich opfere jetzt mal zwei Jahre für den Tierschutz. Das Ganze hat dann eine eigene Dynamik entwickelt.
Warum arbeiten Sie nicht mit anderen Tierschutzorganisationen zusammen?
Kessler: Mit den meisten Tierschutzorganisationen kann ich nichts anfangen. Der Schweizer Tierschutz prangert vor allem Zustände im Ausland an. Dazu braucht es nicht viel Mut und man bekommt Spenden. Ich lebe in der Schweiz und gehe gegen die Missstände hier vor. Niemand sonst hat es gewagt, gegen das Schächten zu kämpfen.
Dafür sind Sie wegen Rassismus verurteilt worden.
Kessler: Sogar zweimal. Es war die schwerste Zeit meines Lebens. Ich hatte jahrelang Albträume, in denen ich mich im Gefängnis gesehen habe. Interessant ist, dass ich nur wegen der Hetze gegen Juden verurteilt worden bin, dabei habe ich die Moslems ebenso kritisiert. Heute weiss jeder in der Schweiz, was Schächten ist, das halte ich mir zugute.
Sind Sie ein Antisemit?
Kessler: Nein. Ich hasse nur die Schächt-Juden. Überhaupt finde ich religiöse Heuchler abscheulich. Ich musste in dieser Zeit aber aktiv etwas tun, damit ich nicht zum Antisemiten werde. Ich habe Israel Singer gelesen und die Musik von Yehudi Menuhin gehört. Mit ihm habe ich mich über das Schächten ausgetauscht. Er hat mir geantwortet, dass er Schächten auch ablehne und überhaupt jedes Schlachten. Ich habe mir bewusst gemacht, dass es auch andere Juden gibt.
Bei mutmasslichen Tierquälern, sind Sie nicht zimperlich. Gegen TV-Moderatorin Katja Stauber haben Sie eine Kampagne geführt.
Kessler: Sie ist eine öffentliche Person. Wenn jemand nur für die Schönheit Botox spritzt und in Kauf nimmt, dass Abertausende von Mäusen im Labor elend zugrunde gehen, kann ich das nicht tolerieren. Sie hätte sagen können, sie höre mit Botox auf.
Wie weit würden Sie in Ihrem Kampf für die Tiere gehen?
Kessler: Der VgT ist gewaltfrei. Wir üben keine Gewalt aus.
Sie üben psychische Gewalt aus.
Kessler: Ich setze mich für die Tiere ein und nehme in Kauf, dass die Täter leiden. Wenn es kein Strafrecht gäbe und ich das Elend der Tiere beenden könnte, dann würde ich den Leiter einer Tierfabrik mit der Maschinenpistole eigenhändig abknallen. Aber Gewalt bringt nichts. Das wäre nur kontraproduktiv. Ich denke da gleich wie Gandhi.
Gandhi gilt als Inbegriff des gewaltfreien Widerstandes.
Kessler: So gewaltfrei war Gandhi nicht. Ich habe viel über ihn gelesen. Er hätte sofort gegen die Engländer gekämpft, wenn er genug Truppen gehabt hätte. Aber er wusste, dass er keine Chance hat, deshalb ging er zum gewaltfreien Widerstand über.
Im Unterschied zu Gandhi leben Sie in einem der sichersten Rechtsstaaten der Welt.
Kessler: Das Schweizer Rechtssystem ist eine Lotterie. Mir wird nichts geschenkt. Wenn ich einen Prozess gewinne, dann muss ich mir das hart erarbeiten. Aber mein Kampf kennt keine Feigheit vor dem Feind.
Das klingt, als wären Sie im Krieg.
Kessler: Ja, so komme ich mir manchmal vor, wie im Krieg. Wir VgT-Aktiven müssen unsere Arbeit nachts machen, wie Partisanen. Diese Arbeit ist zermürbend, darum macht sie auch niemand ausser uns.
Fühlen Sie sich ausgegrenzt?
Kessler: Man hat mich verleumdet und ausgegrenzt. Das macht man auch mit missliebigen Politikern so. Heute versucht man, mich totzuschweigen. Das Fernsehen hat seit Jahren nicht mehr über mich berichtet. Die Post verteilt die «VgT-Nachrichten» nur in die Hälfte der Haushalte. Gratiszeitungen werden überall verteilt, uns verweigert man das mit faulen Ausreden.
Gibt es überhaupt Bauern, die ihre Tiere so halten, wie Sie es sich wünschen würden?
Kessler: Ja, aber es sind wenige. Früher habe ich Labels wie Demeter sogar empfohlen. Ich war so naiv und habe geglaubt, Freiland-Hühnern ginge es besser. Aber das sind genauso Hühner-KZs. Bio-Suisse ist ein absoluter Skandal. Ich bin jetzt Veganer. Das ist für mich der einzig gangbare Weg. Grundsätzlich bin ich aber nicht gegen eine gewisse Nutzung und Tötung der Tiere, sondern gegen die tierquälerische Haltung und gegen das Massenabschlachten.
In letzter Zeit haben Sie es auf Chüngel-Ställe abgesehen. Das sind doch keine Tierfabriken.
Kessler: Nein, aber den Chüngeln geht es wirklich schlecht in den kleinen Käfigen. Es sind soziale Tiere, die sich gerne bewegen. Die werden völlig apathisch. Die Gesellschaft hat sich so an den Anblick der Chüngel-Ställe gewöhnt, dass sie gar nicht merkt, was man den Tieren antut.
Wie lange werden Sie noch für den Tierschutz kämpfen?
Kessler: So lange ich kann. Ich habe vor, hundert Jahre alt zu werden. Als sportlicher Veganer sollte das kein Problem sein.
Was passiert mit dem VgT, wenn Sie nicht mehr sind?
Kessler: Den VgT wird es auch nach mir geben. Aber vielleicht wird er sich verändern. Wir haben 40 000 Mitglieder. Wie viele Aktive es sind, sage ich nicht. Wir sind im Partisanenkrieg.
Sind Sie religiös?
Kessler: Wahrscheinlich schon. Aber mit der Kirche habe ich nichts am Hut. Von allen Religionen, die ich kenne, gefällt mir der Buddhismus am besten. Die Buddhisten haben nie versucht zu missionieren.
Was soll auf Ihrem Grabstein stehen?
Kessler: Gar nichts. Es wird keinen Grabstein geben. Meine Asche soll im Wald verstreut werden oder im Kehricht landen.
Zur Person
Sprachrohr des Vereins gegen Tierfabriken (VgT)
Am 29. Februar 1944 kam Erwin Kessler in Romanshorn zur Welt. Er hat ein Studium als Bauingenieur abgeschlossen. Seine Dissertation beschäftigt sich mit den Auswirkungen von Atombomben auf Schutzbauten. Kessler hat vier Kinder und lebt seit 1970 in Tuttwil. Vor 25 Jahren hat er den Verein gegen Tierfabriken (VgT) gegründet. Der VgT ist seitdem für ihn Beruf und Berufung zugleich. Kessler hat unzählige Prozesse geführt, teils bis vor den Europäischen Gerichtshof.