Bote der Urschweiz: Berlin Ein deutscher Kaufmann hat während 25 Jahren jeden einzelnen Tag im Leben von Adolf Hitler nachge- zeichnet. Das gigantische Werk erzählt auch von Hitlers Reise in die Schweiz. Dort sammelte er Geld für seine Partei.
christoph.reichmuth@luzernerzeitung.ch
«Sonntag, 26.08.1923, Zürich: Ankunft im Hotel ‹St. Gotthard› in der Bahnhofstrasse 87 und Besprechung mit sechs bis acht Gönnern im Hotel. Besprechung in der ‹Villa Schönberg›, dem Wohnsitz von Ulrich Wille junior in der Gablerstrasse 14 (40 Teilnehmer). Hitler sammelt ca. 30 000 Schweizer Franken (heute ca. 600 000 Schweizer Franken).»
Am 30. April 1945, zehn Tage nach seinem 56. Geburtstag, jagte sich Adolf Hitler in seinem Berliner Regierungsbunker eine Kugel in den Kopf. 20 464 Tage nach seiner Geburt 1889. Der Kaufmann und IT-Spezialist Harald Sandner (Jahrgang 1960) hat in den vergangenen 25 Jahren jeden einzelnen Tag des Diktators nachzuzeichnen versucht. Herausgekommen ist das gigantische, mehr als 2400 Seiten umfassende chronologische Werk «Hitler. Das Itinerar.»
Sachlich und ohne Wertung listet der Geschichtsforscher auf, was Hitler wann wo gemacht hat, mit wem er sich unterhalten, wo er gegessen und übernachtet und in welchen Gemeinden er politische Reden gehalten hat. «Ich bin besessen von korrekten Daten», sagt Sandner gegenüber unserer Zeitung. Auf Ungereimtheiten ist der geschichtsinteressierte Sandner im Zusammenhang mit der Geschichte Hitlers immer wieder gestossen. Er wollte ein für alle Mal das Leben des «Führers» rekonstruieren, auch um zu verstehen, weshalb seine eigenen Vorfahren glühende Anhänger der Nationalsozialisten waren und wie dieser Mann einen Kontinent ins Verderben stürzen konnte.
Enge Kontakte zu hohen Militärs
Aus Schweizer Optik stechen Sandners knappe Einträge zu einem mehrtägigen Besuch Hitlers in Zürich hervor. Nach seinem ersten Treffen am 26. August 1923 in Zürich besuchte Hitler an den folgenden Tagen «Bankiers und Seidenfabrikanten am Westufer des Zürichsees», tafelte im Zürcher Hotel «Baur au Lac» in der Talstrasse 1 und besuchte abermals Ulrich Wille auf dem Landgut Mariafeld.
Wo Sandner das Treffen in der Schweiz lediglich protokollarisch festhält, forschte der Luzerner Historiker Alexis Schwarzenbach weiter. Der von Hitler besuchte Ulrich Wille junior – Sohn des Schweizer Generals im Ersten Weltkrieg Ulrich Wille – war bis 1942 Oberstkorpskommandant in der Schweizer Armee, Gegenspieler von General Henri Guisan und galt mit engen Kontakten in die hohe Nazi-Führung als äusserst deutschfreundlich. Offenbar hatten ihn die Nationalsozialisten gar für den Fall einer Besetzung der Schweiz als Umsturzhelfer auf dem Zettel. Ein SS-Führer notierte 1942 über einen Besuch des gerade eben aus der Armee entlassenen Wille in Berlin, dieser sei «sehr alt geworden» und scheide «meiner Meinung nach für eine politische Führungsaufgabe aus».
Schwarzenbach hat die Nazi-Verstrickungen von Ulrich Wille junior (1877–1959) in seinem Buch «Die Geborene» aus dem Jahr 2004 akribisch nachgezeichnet. 1922 freundete er sich mit dem späteren Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess an, die beiden sollen öfters in Willes Villa getafelt haben. Hess hielt sich während des Wintersemesters 1922/23 in Zürich auf, wo er am Polytechnikum studiert hatte.
Kulturelle Differenzen
Laut den unserer Zeitung zur Verfügung gestellten Dokumenten – darunter die Kopie einer Mitschrift von Hitlers Rede – war der Hauptgrund für Hitlers Reise in die Schweiz die akute Finanznot, in der sich die NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) befunden hatte. Hitler persönlich musste bei den potenziellen Schweizer Geldgebern vorsprechen, nachdem vorherige Auftritte von NSDAP-Sympathisanten wie Dietrich Eckart (Chefredaktor des «Völkischen Beobachters») in der Schweiz nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatten. Der Hitler-Vertraute Emil Gansser, einer der aktivsten Geldbeschaffer der NSDAP in den frühen 1920er-Jahren, echauffierte sich über das forsche Auftreten seiner Landsleute bei möglichen Schweizer Geldgebern. «Der Schweizer Boden erfordert weltgewandtere Typen, wenn die Sachen überhaupt reüssieren sollen», vermerkte Gansser. «Die Gleichsetzung von Reichsdeutsch ist gleich Schweizerdeutsch wird hierzulande auf das Peinlichste empfunden.»
Gemässigtere Töne
So kam es, dass Hitler persönlich in die Schweiz reiste. Alexis Schwarzenbach hat bei seinen Nachforschungen herausgefunden, dass Hitler in Kreisen der Schweizer Industriellen ein anderes Vokabular benutzt hatte als etwa bei Auftritten in Münchner Kneipen – unter anderem verlor der glühende Antisemit in Zürcher Kreisen für ihn ungewohnt nicht ein negatives Wort über das «Weltjudentum». Dafür warnte der Österreicher, der zehn Jahre später die Macht ergreifen sollte, die Schweizer umso eindringlicher vor einem Vormarsch der Bolschewisten.
Der damals 34-Jährige deutete seine zerstörerischen Pläne vor dem Zürcher Publikum bereits an. Er zeigte sich beeindruckt von der Radikalität der Kommunisten und schwärmte von Mussolini in Italien. Es stehe in Europa ein Kampf an zwischen der Diktatur des Proletariats und der Diktatur einer national gesinnten Minderheit. Eine Revolution schaffe Verhältnisse, die «nur mit der grössten Rücksichtslosigkeit und mit der Opferung von Tausenden von Existenzen» geführt werden könne. «Ein Mittelding zwischen der Diktatur des Proletariats oder der Diktatur von rechts gibt es nicht.»
«Er spricht wundervoll!»
Hitler traf sich in der Schweiz mit verschiedenen Leuten, am 28. August 1923 besuchte er zusammen mit Emil Gansser den Schaffhauser Schwerindustriellen Ernst Homberger, zwei Tage später hielt er eine Rede in der Villa von Ulrich Wille junior in Zürich. In deutschen Polizeiakten ist vermerkt, dass Hitler vor ungefähr vierzig Personen gesprochen habe – über die genaue Zusammensetzung des Publikums herrscht Unklarheit. Hitler weilte am Abend zuvor auch im Landgut Mariafeld in Meilen am Zürichsee, wo der zur damaligen Zeit in München wohnhafte Hitler unter anderem mit General Ulrich Wille, dessen Frau Clara Wille und Hitlers Begleiter Emil Gansser tafelte. Die Frau des Generals war über die Darbietung des «Politikers aus Bayern» sehr beeindruckt, seinen Namen schrieb sie in ihren Notizen allerdings falsch: «Hittler äusserst sympathisch! Der ganze Mensch bebt, wenn er spricht; er spricht wundervoll.»
Angewidert vom Überfluss
Hitler dürfte bei seiner Schweiz-Reise nach Schätzungen Schwarzenbachs Spenden zwischen 11 000 und 123 000 Franken gesammelt haben. Laut Schwarzenbach stiess Hitler auf geteiltes Echo. Zwar wurde die Angst vor den Bolschewisten bei Schweizer Industriellen geteilt, Hitlers Demokratiefeindlichkeit allerdings abgelehnt.
Hitler selbst erinnerte sich 1942 bei einem Mittagessen nur ungern an seine Reise an den Zürichsee zurück, offenbar war er angewidert vom materiellen Überfluss in dem südlichen Nachbarland, zu einer Zeit notabene, als sich Deutschland in höchster wirtschaftlicher Not befunden hatte: «Ich bin 1923 einmal in die Schweiz gekommen, habe in Zürich gegessen und war vollständig perplex über die Fülle der Gerichte. Was hat so ein kleiner Staat für eine Ideologie des Lebens?», stänkerte Hitler bei einem Mittagessen. Nichtsdestotrotz soll sich Hitler bei Wille 1926 persönlich mit einer signierten Ausgabe von «Mein Kampf» für die Gastfreundschaft in Zürich bedankt haben.
Langschläfer Hitler
Sandners Hitler-Chronik wird die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Diktators nicht neu schreiben. Dennoch müssen die Chroniken einiger Gemeinden und Städte angepasst werden, kaum allerdings in der Schweiz. Man lernt aus Sandners Werk auch, dass der Diktator in der Regel bis spät in die Nacht hinein mit seinen Generälen die Lage besprach, dafür kaum vor 11 Uhr oder 12 Uhr aufgestanden ist – auch nicht in den Jahren ab 1943, als sich die Lage dramatisch zugespitzt hatte. Zudem wird Hitlers intensive Reisetätigkeit ersichtlich. Der gescheiterte Kunstmaler hielt es schon in jungen Jahren kaum zwei Tage am Stück am selben Ort aus. Es gab im Nationalsozialismus kein Machtzentrum, sagt Sandner: «Wo Hitler war, war die Macht.»