Neue Zürcher Zeitung: Erhöhung der Freiheitsstrafe auf vierzehn Jahre, aber keine Verwahrung mehr wie vor Vorinstanz für versuchte vorsätzliche Tötung im Niederdorf
Rechtsextremismus war kein Thema am Berufungsprozess vom Freitag. Bereits das Bezirksgericht hatte ein solches Motiv im erstinstanzlichen Prozess vom Juni 2014 als «mediale Phantasie» bezeichnet. Der 28-jährige Sebastien N. erklärte erneut, er sei schon Jahre vor der Tat aus der rechtsextremen Szene ausgestiegen. Am 5. Mai 2012 hatte er im Zürcher Niederdorf mit einer Pistole auf einen Kontrahenten geschossen und diesen lebensgefährlich verletzt. Das Opfer erlitt einen Lungendurchschuss und überlebte nur dank einer Notoperation.
Das Bezirksgericht Zürich hatte ihn wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und mehrfachen Vergehens gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt und eine ambulante Behandlung während des Strafvollzugs angeordnet. Zudem wurde die Verwahrung ausgesprochen. Alle Parteien legten Berufung ein. Die Staatsanwältin forderte fünfzehn Jahre. Der Verteidiger plädierte nur auf eine eventualvorsätzliche schwere Körperverletzung und vier Jahre Freiheitsstrafe mit ambulanter Therapie, aber ohne Verwahrung. Der Opferanwalt wollte 30 000 statt 18 000 Franken Genugtuung.
Der Beschuldigte gab vor Gericht die Schussabgabe unumwunden zu, machte aber eine Notwehrsituation geltend. Ein erstes psychiatrisches Gutachten hatte bei ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung festgestellt. Das akzeptierte Sebastien N. nicht und beantragte ein zweites Gutachten bei Frank Urbaniok, denn nur dieser habe «die Grösse und die Kompetenz», ihn zu beurteilen. Urbaniok kam im Juli 2015 aber zum selben Schluss. Die schwere Persönlichkeitsstörung bedürfe dringend einer stationären Massnahme. Dagegen wehrte sich Sebastien N. kategorisch. Der mehrfach vorbestrafte Gewalttäter, der schon mit neun Jahren in die rechtsextreme Szene abdriftete, eine schwer lädierte Jugend verbrachte, lange als notorischer Schläger galt und von Urbaniok in die zweithöchste von neun Risikogruppen für Gewaltdelikte eingestuft wird, will nichts mehr mit Psychiatern zu tun haben. Auf die Frage, ob er wirklich eine Verwahrung der Therapie vorziehe, entgegnete er stur, in die Psychiatrie gehe er nicht. Eine ambulante Massnahme könne er aber akzeptieren.
Die II. Strafkammer unter Oberrichter Christoph Spiess sprach den Beschuldigten erneut der versuchten vorsätzlichen Tötung schuldig, erhöhte die Strafe aber auf vierzehn Jahre und ordnete eine ambulante Therapie an. Die Verwahrung gab es überraschenderweise nicht mehr. Sie werde nicht ausgesprochen, weil der Täter noch sehr jung sei, begründete Spiess. «Wir haben einen letzten Rest Hoffnung», das Potenzial zur Besserung sei vorhanden. Es sei aber der «letzte Zwick an der Geissel». Wenn die ambulante Therapie nicht funktioniere, münde es wohl irgendwann doch in eine Verwahrung. Von einer Notwehrsituation bei der Tat könne jedoch keine Rede sein, erklärte Spiess. Das Gericht sei der Überzeugung, dass ein direkter Vorsatz vorlag. Aus so kurzer Distanz – 60 bis 80 Zentimetern – schiesse nur jemand, der töten wolle. Dazu passten auch Whatsapp-Nachrichten, die der Beschuldigte nach der Tat abgesetzt hatte (was er aber bestritt). Darin stand unter anderem: «Ich hoffe, er läbt nüm.» Das Motiv der Tat seien wohl blöde Sprüche über Kollegen gewesen. Die Genugtuungssumme bleibt bei 18 000 Franken.
«Werwolf-Kommando»: Zu wenig Beweise für Terrorvorwürfe
fbi. · Sebastien N. galt auch als Kopf eines angeblich gefährlichen rechtsextremen «Werwolf-Kommandos». Die Terrorvorwürfe sind inzwischen vom Tisch. Die deutsche Generalbundesanwaltschaft hat das Verfahren gegen die Neonazi-Gruppierung eingestellt. Dies bestätigte ein Sprecher auf Anfrage. Der Tatverdacht – die Gründung eines rechtsextremistischen «Werwolf-Kommandos» – habe nicht gerichtsfest nachgewiesen werden können. Mitte Juli 2013 hatten Fahnder in einer international koordinierten Aktion in Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz die Wohnungen und Geschäftsräume von vier Personen sowie die Gefängniszellen von zwei weiteren Rechtsextremen, darunter die von Sebastien N., durchsucht. Die Ermittler glaubten, das «Werwolf-Kommando» plane ein Attentat auf eine israelische Botschaft.
Zu Festnahmen kam es jedoch nie. Bei einigen von den Razzien Betroffenen zeigte sich zudem, dass sie wohl gar nicht zur rechtsextremen Szene gehörten. Trotz den umfangreichen Ermittlungen fanden sich zu wenig belastende Beweise, die eine Anklage wegen der Gründung einer rechtsterroristischen Vereinigung ermöglicht hätten. Auch die Planung eines Anschlags liess sich nicht nachweisen.