Als die brodelnde Jugendszene überkochte

Basler Zeitung: Wie der Coop-Pronto-Überfall in Liestal den Kanton Baselland zum Pionier in Sachen Jugendstrafvollzug machte

Liestal. Die Baselbieter Jugendanwaltschaft hat sich in den vergangenen Jahren zum Klassenprimus hochgearbeitet. Sie entwickelte eigene Methoden im Jugendstrafvollzug, die nun von vielen anderen Kantonen übernommen wurden. Jüngstes Beispiel ist das Electronic Monitoring, die Fussfessel im Jugendbereich, die sogar im Schweizerischen Jugendstrafrecht verankert wurde. Der Ursprung dieser Pionierrolle liegt ausgerechnet in der brodelnden Baselbieter Jugendszene, die 2004 überkochte.

Blenden wir 15 Jahre zurück: Die Luftlinie zwischen dem Liestaler Jugendtreff und dem Big-Ben-Pub im Stedtli beträgt keine hundert Meter. Das Lokal vis-à-vis dem Regierungsgebäude ist als Treffpunkt der rechten Szene bekannt. Jugendliche mit Glatzen in Bomberjacken und Springerstiefeln geben sich die Türklinke in die Hand. Der Jugendtreff hingegen, auf der anderen Seite des Orisbachs, wird mehrheitlich von Ausländern besucht. Gelegentliche Scharmützel bleiben nicht aus. Die Gruppierungen provozieren sich gegenseitig: Bomberjacken werden beispielsweise aus dem Eingangsbereich des «Big Ben» geklaut, zerschnitten und bepinkelt. Die Reaktion der «Glatzen» bleibt nicht aus, es kommt immer wieder zu Schlägereien – und das mitten in Liestal.

«Wir haben gespürt, dass es brodelt», erinnert sich der heutige Muttenzer Gemeinderat Thomi Jourdan, damals Leiter der Offenen Jugendarbeit und Streetworker. Die Baselbieter Skinheadszene traf sich in Liestal. Auch entlang der S-Bahn-Linie 3 entstanden rivalisierende Gruppierungen. Die Kriminalstatistik zeigt: Einfache Körperverletzungen häuften sich, auch Drogendelikte und Überfälle, Jugendliche wurden von Jugendlichen bedroht und ausgenommen. Der Liestaler Bahnhof wurde immer öfter zum Schauplatz der Auseinandersetzungen. Der Unmut in der Bevölkerung wuchs. Dadurch sei auch bei der Polizei die Erkenntnis gewachsen, dass jemand diese Jugendlichen der verschiedenen Gruppierungen kennen muss, sagt Daniel Wenger, Jugendsachbearbeiter bei der Baselbieter Polizei.

Als «Schmierfinken» beschimpft

Seit über 30 Jahren arbeitet Wenger nun mit Jugendlichen, seit gut 15 Jahren als Jugendsachbearbeiter; er war der Erste seiner Zunft. Schon zuvor, in den 1990er-Jahren, hatte er direkt Kontakt mit Jugendlichen aufgenommen. Damals hat sich die Hip-Hop-Szene als Populärkultur in Liestal etabliert. «Zum Rap und den Breakdancern haben auch die Sprayereien gehört», erinnert er sich. Die «Schmierfinken», wie sie von der Bevölkerung auch bezeichnet wurden, haben mit ihren Graffiti ebenfalls für Ärger gesorgt.

Thomas Faust, langjähriger Leitender Jugendanwalt, forcierte die Frühkontakte mit den Jugendlichen, deren Eltern sowie die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Streetworkern wie Thomi Jourdan und der Jugendanwaltschaft (Juga) – auch das war damals ein Novum für die Schweiz. Generell wurden zu dieser Zeit Vergehen der Teen­ager eher als Bagatellen verniedlicht. «Auch die Täterermittlung wurde vernachlässigt», sagt Faust. Seine Bemühungen um Zusammenarbeit fussten auf der Überzeugung, dass jene Jugendlichen, die in diesem Umfeld kleinkriminell aktiv sind, später oft auch schwerere Verbrechen begehen. Kriminelle Energie sollte im Keim erstickt werden. Gleichzeitig war sich Faust bewusst, dass niemand so nahe an die Jugendlichen dran ist wie die Streetworker. «Am Ende hatten wir alle das gleiche Ziel. Je besser man die Szene kennt, je früher man eingreifen kann, desto eher verhindert man schwere Delikte.»

Das Kontaktnetz sollte mit einem Jugenddienst der Polizei ausgebaut werden. Die ersten Annäherungsversuche waren zaghaft, erinnert sich Jourdan. «Daniel Wenger stand plötzlich bei uns im Jugendtreff auf der Matte und schüttelte mir die Hand. Ich kannte ihn nicht.» Auch Wenger erinnert sich. Er wollte die Jugendszene noch näher kennenlernen. Doch die Vorurteile waren zu Beginn allgegenwärtig: Ein Polizist in Zivil, der sich im Jugendtreff eine Cola bestellt, sich hinsetzt und sich mit den Besuchern unterhalten möchte, sei sehr ungewöhnlich gewesen. Die Reaktionen blieben nicht aus: «Was will der Schnüffler? Ausspionieren? Jugendliche verhaften?», erzählt Wenger schmunzelnd.

Polizei, Streetworker und Jugendanwaltschaft wussten damals kaum etwas über den Aufgabenbereich des anderen. Und die Streetworker begaben sich mit der Kooperation auf eine Gratwanderung: Das Vertrauensverhältnis zu den Jugendlichen ist ihr Kapital. Wie dieses trotz Kontakt mit der Polizei nicht gefährdet wird, war für Jourdan und sein Team eine zentrale Frage. «Wir beobachteten die Situation aufmerksam.»

Die Jugendlichen zeigten sich sehr interessiert und neugierig, erzählt Wenger. Sie stellen viele Fragen über die Polizei. Das Image habe aus Blaulicht, Handschellen und «eine aufs Dach geben» bestanden. «Gerade für Migranten aus autoritären Staaten war es ungewohnt, einem Polizisten vertrauen zu können.» Er habe aber von Anfang an klargemacht, dass er ein Vertreter des Gesetzes sei. «Wenn ihr straffällig werdet, führe ich euch mit Handschellen ab, wenn es sein muss.»

Baseballschläger mit Nägeln

Trotz der Bemühungen: Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren funktionierte nicht wie erhofft. «Auch weil in der Politik das Bewusstsein für die Tragweite der Jugendkriminalität fehlte», sagt Jourdan. Inmitten dieser Annäherungsversuche geschah am 30. April 2004 das Unfassbare: Eine Gruppe Vermummter stürmte auf den Liestaler Bahnhof und in die Coop-Pronto-Filiale, schlug auf Kunden ein – ausschliesslich Ausländer. Augenzeugen berichteten von schwarzen Sturmhauben, Baseballschlägern, manche mit Nägeln gespickt, von weiteren Waffen wie einem Samuraischwert oder einem Morgenstern, die Täter mit sich trugen. Sie planten eine Abrechnung mit einer Ausländergruppe, die glücklicherweise misslang.

Bald stellte sich heraus: Die Täter – 15 Personen – stammten aus der rechten Szene. Der Schock sass tief in Liestal. Die Bevölkerung traute sich kaum noch auf den Bahnhofsplatz. «Dieser Aufmarsch war bisher in der Schweiz von ungekannter martialischer Aufmachung, der die Bevölkerung sehr verängstigte», sagt Daniel Wenger, der in diesem Fall ermittelte. Rückblickend meint er, dass der Überfall «viel schlimmer hätte ausgehen können». Drei Personen mussten damals verletzt ins Spital gebracht werden. «So traurig es klingt: Seit diesem Vorfall zweifelte niemand mehr am Handlungsbedarf im Jugendbereich», sagt Wenger.

Nicht mehr der «Pampersclub»

Der Landrat beschäftigte sich mit dem Vorfall, es wurde eine Fachgruppe «Sicherheit im öffentlichen Raum» gegründet und Projekte wie die Bahnhofpaten, die mit roten Gilets am Bahnhof Präsenz markierten, wurden lanciert. Diesen Wandel in der Betrachtung der Jugendkriminalität spürte auch Streetworker Thomi Jourdan. «Wir fühlten uns in unserer Arbeit ernster genommen.» Auch der Jugendbereich bei der Polizei, früher gerne einmal als «Globi-» oder «Pampersclub» bezeichnet, gewann an Ansehen.

Durch die Zusammenarbeit entstanden drei wichtige Pfeiler in der Arbeit mit Jugendlichen: Ein breites Beziehungsnetz, eine dadurch schnellere Täterermittlung und verschiedene Instrumente, die individuell zugeschnittene Sanktionen erlauben. Die Programme der Baselbieter Jugend­anwaltschaft sind vor allem auf Unterstützung statt auf Repression ausgerichtet. «Wir gingen da einen unkonventionellen Weg», sagt Thomas Faust.

Durch den vermehrten frühzeitigen Einsatz von ambulanten Massnahmen sah er sich am Anfang vereinzelt mit dem Vorwurf der Kuscheljustiz konfrontiert. «Unsere sozialen Verhältnisse sind noch so gut, dass die Jugendlichen meistens noch Perspektiven haben. Unsere Programme wären wohl in den französischen Banlieues, wo die Jugend sich oft verloren glaubt, nicht erfolgreich.»

Viele Kantone kopieren nun das Baselbieter Modell, auch aus Kostengründen, vermutet Faust. Stationäre Massnahmen kosten zwischen 400 und 1200 Franken am Tag. Ambulante Massnahmen wie eine Fussfessel hingegen nur 70 Franken am Tag. Gerade auch seit dem Fall Carlos schaue man genauer hin. Im Baselbiet sind nun aus Spargründen auch die erfolgreichen Programme wie das «Take Off» in Gefahr, das Jugendlichen eine Tages­struktur bietet. Dieses sei jedoch inzwischen ein «unverzichtbares Angebot im Bereich der Jugendhilfe», sagt Faust.

Der Kanton Baselland kann heute von seiner Pionierrolle profitieren

Liestal. Die Schweiz scheint sich dem Baselbiet anzupassen. Die Statistik über den Schweizer «Jugendsanktionsvollzug» 2015 zeigt: Bei Urteilen werden seit Jahren immer weniger Jugendliche zu einer stationären Massnahme verurteilt. Zwischen 2010 und 2014 nahmen diese laut Bundesamt für Statistik gar um 70 Prozent ab. Im Kanton Baselland könne nicht von einer Trendwende gesprochen werden, sagt die leitende Jugendanwältin Corina Matzinger. Seit mehreren Jahren befinden sich lediglich zwischen vier und acht Jugendliche in stationären Massnahmen. «Wir bemühen uns seit Jahren, mit unserem bewährten Stufenkonzept kostenintensive stationäre Massnahmen wie Heimplatzierungen nur in den wirklich notwendigen Verfahren einzusetzen.» Dafür setze die Baselbieter Jugend­anwaltschaft einen Schwerpunkt auf die Früherkennung und den Einsatz von ambulanten Schutzmassnahmen.

Der schweizweite Rückgang der stationären Massnahmen hatte Folgen für die betroffenen Einrichtungen. Im Basel­biet wurde das Projekt für ein Jugendgefängnis mit 18 Plätzen auf dem Arxhof beerdigt. Man habe sich vielleicht von einzelnen Ereignissen wie dem Neonazi-Überfall am Bahnhof Lies­tal täuschen lassen, sagte damals der Berner Polizei- und Militärdirektor Hans-Jürg Käser, der als Konkordatspräsident über den Bau mitzuentscheiden hatte. In Bern machte dieses Jahr eine Institution besonders Schlagzeilen: Nur vier Jahre nach einer üppigen Grosssanierung für knapp 38 Millionen Franken musste das Jugendheim Prêles geschlossen werden. Schweizweit läuft der Trend gegen teure, stationäre Massnahmen.

Ob der Baselbieter Weg wirklich erfolgreicher ist als andere, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. «Bisher gibt es in der Schweiz keine Langzeitstudien über die Wirksamkeit und Rückfall­gefahr bei Massnahmen im Jugend­bereich», sagt die leitende Jugend­anwältin. Es habe sich aber gezeigt, dass sich mit dem Konzept der massgeschneiderten ambulanten Massnahmen offenbar konstant nachhaltige Ergebnisse erzielen lassen. Dies in Kombination mit Prävention und Frühkontakten sowie Electronic Monitoring, der Fussfessel im Jugendbereich, die ins Schweizerische Jugendstrafrecht aufgenommen wurde.

Die Statistik über Jugendsanktionen in der Schweiz befindet sich noch immer im Aufbau, teilt das Bundesamt für Statistik (BFS) auf Anfrage mit. Diese hat zum Ziel, die Notwendigkeit, Wirkung und Effizienz der strafrechtlichen Sanktionen zu evaluieren. Zudem sollen die Daten es ermöglichen, die Verläufe der Strafverfolgung bei Jugend­lichen über ihre gesamte Jugend hinweg zu beobachten und ihre Chancen auf Resozialisierung beurteilen zu können. Die Projektphase endet dieses Jahr. Einige Jahre müssen noch ver­gehen, bis daraus aussagekräftige Schlüsse gezogen werden können, teilt das BFS mit.

bgy