Tages-Anzeiger: 2015 ging die Zahl der antisemitischen Vorfälle zurück, doch es gab zwei massive Attacken auf Zürcher Juden. Gegen die zunehmende Hetze im Internet haben jüdische Organisationen Anzeige erstattet – mit Erfolg.
Es ist der 4. Mai 2015, früher Abend. Im Zürcher Kreis 2 gehen drei Jugendliche zu Fuss ins Fussballtraining des FC Hakoah – des grössten jüdischen Sportvereins in Zürich. Kurz vor dem Trainingsplatz in der Enge werden sie von zwei unbekannten Jugendlichen abgefangen. Die Situation eskaliert. Die jüdischen Fussballer werden geschubst, antisemitisch beschimpft, geohrfeigt und getreten. Ein Passant, der die Szene beobachtet, stellt sich dazwischen. Es gelingt ihm, die Täter, die kaum älter als 14 Jahre alt sind, zu vertreiben.
Die elf- und zwölfjährigen Opfer erstatteten Anzeige, doch die Täter konnten bis heute nicht identifiziert werden. Die Stadtpolizei bestätigt die bisher unbekannte antisemitische Attacke. «Der Vorfall ist für uns einzigartig», sagt Clubpräsident Marc Blumenfeld. Dass ein Passant beherzt einschreite, sei jedoch ein gutes Zeichen: «Es zeigt, dass die Ablehnung von Antisemitismus in der Schweiz vergleichsweise hoch ist.» Dennoch ist der Fussballverein in Alarmbereitschaft. Die Trainingszeiten wurden nach den Paris-Anschlägen von der Website gestrichen, und bei Grümpelturnieren ist jeweils ein Sicherheitsdienst vor Ort. «Übergriffe wie jener im letzten Mai beunruhigen uns. Auch einige Eltern sind besorgt», sagt Blumenfeld.
Verbalattacken und Drohbriefe
Die Gewalttat ist im Antisemitismusbericht 2015 aufgeführt, den der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) heute publizieren. Es gab letztes Jahr noch einen zweiten physischen Übergriff in Zürich: Die Attacke eines Nazimobs auf einen orthodoxen Juden im Juli in Wiedikon – unweit vom ersten Tatort entfernt. Ansonsten wurden vor allem verbale Attacken und Drohbriefe registriert.
Der neuste Bericht ist auf den ersten Blick erfreulich: Die Zahl der Vorfälle in der Deutschschweiz sank gegenüber dem Vorjahr deutlich – von 66 auf 14. SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner relativiert den Rückgang: «Antisemitismus ist latent vorhanden und dringt meist durch äussere Anlässe an die Oberfläche.» Als sich 2014 der Konflikt zwischen Israel und Palästina verschärfte, stiegen die antisemitischen Vorfälle in Zürich markant an. Die rückläufige Zahl von 2015 sei auch Ausdruck der geringeren Spannung in Israel.
Die Kantonspolizei Zürich hat nach den Paris-Anschlägen vom November vermehrt jüdische Institutionen bewacht. Sie gibt auf Anfrage bekannt, dass sie die Situation der jüdischen Gemeinde laufend beobachte und sich vorbehalte, Massnahmen anzupassen. «In unsere Lageanalyse fliessen verschiedene Aspekte ein – auch der Antisemitismusbericht», sagt Sprecherin Carmen Surber.
Der Stadtzürcher Polizeivorsteher Richard Wolff will den Bericht zuerst eingehend studieren, bevor er sich öffentlich äussert. Der AL-Politiker brachte jüngst Bewegung in die Sicherheitsdebatte, als er sagte, dass die gestiegenen Sicherheitskosten für die jüdische Gemeinde «fast nicht mehr tragbar» seien (TA vom 1. Februar). Allein in Zürich belaufen sie sich auf rund eine Million Franken jährlich. Wolff zeigte Verständnis für die jüdische Forderung nach einer staatlichen Kostenbeteiligung. Das VBS hat kürzlich unter strengster Geheimhaltung eine Arbeitsgruppe gebildet, die Schutzmassnahmen für jüdische Einrichtungen erarbeiten soll.
Jonathan Kreutner will die sicherheitspolitische Frage nicht mit der geringeren Zahl antisemitischer Vorfälle in Zusammenhang bringen: «Die Terrorgefahr ist gestiegen. Unabhängig davon, wie viele Juden auf der Strasse beleidigt werden.» Jüdische Einrichtungen seien nach wie vor besonders gefährdet, dies hätten die Anschläge der letzten Jahre in Europa gezeigt.
Coiffeuse rief zum Mord auf
Wie angespannt die Lage ist, zeigen antisemitische Inhalte, die im Internet verbreitet werden und die sich kaum quantifizieren lassen. Sie werden deshalb auch nicht systematisch im Antisemitismusbericht erfasst. «In sozialen Netzwerken fordern gewisse Leute unverhohlen, ‹Juden abzuschlachten›», sagt Kreutner. Kontrollieren lasse sich die Onlinehetze kaum. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) bestätigt, dass die Meldungen wegen Rassendiskriminierung im Netz in den letzten Jahren stark zugenommen haben. So verzeichnete die interne Koordinationsstelle zur Bekämpfung von Internetkriminalität (Kobik) von 2013 auf 2014 einen Anstieg um über 100 Prozent. Die Zahlen für 2015 werden im Mai publiziert.
Weil es kaum Verurteilungen von Internetrassisten gab, wurde die jüdische Gemeinde selbst aktiv. Allein 2014 zeigten der SIG und die GRA 25 Personen an. Das häufigste Vergehen: Aufruf zu Gewalt oder Mord. Die Erfolgsquote der Anzeigen ist hoch, in den meisten Fällen resultierte eine rechtskräftige Verurteilung. Viele Absender nahmen sich nicht die Mühe, ihre Identität zu verschleiern. So etwa die harmlos erscheinende Coiffeuse O. M. (Name der Redaktion bekannt) aus Zürich, die auf ihrem Facebook-Profil dazu aufrief, alle Juden zu erschiessen. Sie wurde zu 20 Tagessätzen à 20 Franken und einer zusätzlichen Busse von 750 Franken verurteilt.
Hürden für Strafverfolger
Treten die Antisemiten jedoch anonym auf, ist die Chance auf eine Verurteilung klein. «Wir können amerikanische Unternehmen wie Twitter oder Facebook nicht zur direkten Herausgabe der Nutzerdaten verpflichten», sagt Sandra Schweingruber vom Zürcher Kompetenzzentrum für Cybercrime. Die Staatsanwältin hat schon einige Anzeigen wegen Antisemitismus im Internet bearbeitet. Liess sich die Identität der Angezeigten nicht ausfindig machen, scheiterte die Ermittlung in der Regel an der Zusammenarbeit mit den amerikanischen Behörden. Wenn in den USA Äusserungen unter die Meinungsfreiheit fallen, die hierzulande verboten sind, wird ein Rechtshilfeersuchen der hiesigen Behörden nicht ausgeführt. Durch das globalisierte Internet wird den Strafverfolgern eine zusätzliche Hürde gestellt, sagt Schweingruber.
Auch wenn die Behörden an Userdaten gelangen, garantiert dies noch keinen Erfolg. Denn Schweizer Provider wie Swisscom, Sunrise oder Salt behalten die IP-Adressen nur sechs Monate – wie das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung vorschreibt. «Es müsste sich auf politischer Ebene etwas bewegen», sagt Staatsanwältin Schweingruber. «Ansonsten sind uns oft die Hände gebunden.»
«Die Terrorgefahr ist gestiegen, unabhängig davon, wie viele Juden auf der Strasse beleidigt werden.»
SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner