Neonazi drohen 20 Jahre Haft

Tages-Anzeiger: Im Niederdorf soll vor zwei Jahren ein Neonazi auf einen jungen Mann geschossen haben. Der Schütze steht morgen Mittwoch vor Gericht.

Zürich – Die Anklageschrift ist kurz und sec: Am 5. Mai 2012 ist es zwischen dem Beschuldigten und dem späteren Opfer in und vor der Double-U-Bar im Niederdorf zu einer Auseinandersetzung gekommen. Dabei zückte Sebastien N. seine durchgeladene Pistole, entsicherte sie und schoss sofort bewusst und gewollt auf den Oberkörper seines Kontrahenten. Dieser erlitt einen Lungendurchschuss und floh. Der Schütze feuerte noch einmal ab, verfehlte aber den Mann. Nach der Tat flüchtete der Neonazi, der am Donnerstag 27-jährig wird. Die Kantonspolizei schrieb den Mann zur Fahndung aus und veröffentlichte Fotos von ihm. Mit Erfolg. Sebastien N. konnte nach knapp 48-stündiger Flucht in Hamburg verhaftet werden. Er wurde später an die Schweiz ausgeliefert.

Morgen Mittwoch steht der Mann vor dem Bezirksgericht Zürich. Die Staatsanwältin klagt ihn wegen versuchter vorsätzlicher Tötung an. Ihm droht eine Freiheitsstrafe bis zu 20 Jahren. Der Mann ist kein unbeschriebenes Blatt. Der aus Grenchen stammende Sebastien N. verbrachte seine Kindheit vorwiegend in Pflegefamilien und Heimen. Er war schon früh mit Rechtsextremen in Kontakt gekommen und ist x-fach vorbestraft; unter anderem wegen Körperverletzung, Raufhandels und Rassendiskriminierung. Auf seinem Oberkörper hat er nicht nur ein Hakenkreuz, einen Totenkopf, Handgranaten und ein Spinnennetz tätowiert, sondern auch ein Porträt von Adolf Hitler. Das Solothurner Obergericht hatte ihn im Januar 2012 in zweiter Instanz zu einer Freiheitsstrafe von 39 Monaten verurteilt. Weil er das Urteil ans Bundesgericht gezogen hatte, befand er sich zur Tatzeit auf freiem Fuss.

Beim um zwei Jahre älteren Opfer handelt es sich ebenfalls um ein ehemaliges Mitglied der rechtsextremen Szene. Der Schweizer aus dem Kanton Aargau will aber der Nazi-Gesinnung «zu 100 Prozent abgeschworen haben», wie er im Januar der «Aargauer Zeitung» sagte. Der Ausstieg aus der «Blood-and-Honour»-Bruderschaft habe ihn aber fast das Leben gekostet. Der vorbestrafte Mann war Anfang Jahr im Kanton Aargau wegen Alkohol am Steuer zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden. Er werde als Zivilkläger am morgigen Prozess teilnehmen, sagte er.

Werwolf-Kommando-Gründer

Der Beschuldigte Sebastien N. geriet im letzten Sommer in die Schlagzeilen, weil ihn die deutschen Behörden verdächtigten, Anführer einer rechtsextremen Terrorgruppe zu sein. In der Schweiz, in Deutschland und den Niederlanden durchsuchten Dutzende von Beamten die Räumlichkeiten von vier Personen sowie die Gefängniszellen von zwei weiteren Verdächtigen. Darunter auch die Zelle von Sebastien N. Die deutschen Ermittler warfen den Personen vor, ein rechtsextremistisches «Werwolf-Kommando» gegründet zu haben. Laut damaligen TA-Recherchen seien auch Attentatspläne auf eine israelische Botschaft geplant gewesen.