Tages-Anzeiger: Ein 27-jähriger Schweizer, der im Niederdorf auf einen Kontrahenten geschossen hatte, ist vom Bezirksgericht Zürich wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu einer Strafe von zwölf Jahren mit anschliessender Verwahrung verurteilt worden.
Zürich – Vor dem Bezirksgericht Zürich war Sebastien N. gestern Mittwoch nicht mehr mit Glatze erschienen, sondern mit halb langen, nach hinten gekämmten Haaren. Auf seinem T-Shirt prangten die Zahlen 1312. Auf die Frage des Vorsitzenden Roland Heimann, was dies bedeutet, meinte er «einfach Zahlen». In Tat und Wahrheit sind dies die Anfangsbuchstaben der Parole «All Cops Are Bastards» (Alle Polizisten sind Bastarde). Arme und Hals sind tätowiert. Unter anderem mit C18 (Combat 18) – einst der bewaffnete Arm des Neonazinetzwerks Blood and Honour. Die Zahlen 1 und 8 sind der erste und der achte Buchstabe des Alphabets, die Initialen Adolf Hitlers.
An der Gerichtsverhandlung sagte der 27-Jährige, dass er seit 2007 der rechtsextremen Szene abgeschworen habe. Pressebilder zeigen ihn aber noch Jahre später mit Gesinnungsgenossen in Deutschland. Er hatte keinen Beruf erlernt und arbeitete als Hilfsarbeiter auf dem Bau, zuletzt war er als Webdesigner in einer kleinen IT-Firma in Baden tätig. Seit 2011 lebte er in Hamburg bei seiner damaligen Freundin. Wöchentlich ist er jeweils für ein, zwei Tage beruflich in die Schweiz gereist.Dies war auch am frühen Morgen des 5. Mai 2012 der Fall. Sebastien N. war nach der Arbeit noch in einer Bar im Zürcher Niederdorf, als dort ein Bekannter aus der rechtsextremen Szene mit Kollegen auftauchte. Er habe an dessen Blick sofort gemerkt, dass es Ärger geben würde, sagte der Beschuldigte. Die aggressive Stimmung habe sich hochgeschaukelt, als er auf die ehemalige Freundin des späteren Opfers zu reden kam und dieser negativ über einen verstorbenen Freund von Sebastien N. sprach. Deshalb sei er vor die Bar gegangen, um zu rauchen und sich zu beruhigen.
Kein unbeschriebenes Blatt
Als sein Kontrahent mit seinen Kollegen ebenfalls aus der Bar kam, sei der Streit eskaliert. «Ich hatte Angst, ich habe im Schock geschossen», sagte Sebastien N. Er habe mit der Kleinkaliberpistole nicht gezielt auf ihn geschossen, sondern nur aus der Hüfte heraus. Das Opfer erlitt einen Lungendurchschuss und floh. Der Schütze feuerte nochmals, verfehlte ihn aber. Nach der Tat flüchtete er und wurde später in Hamburg verhaftet.
Sebastien N. ist kein unbeschriebenes Blatt. Der in Zürich geborene Mann verbrachte seine Kindheit vorwiegend in Pflegefamilien und Heimen. Er hat sechs Einträge im Strafregister; unter anderem wegen Gewaltdelikten und Rassismus. Das Solothurner Obergericht hatte ihn im Januar 2012 zu einer Strafe von 39 Monaten verurteilt.Staatsanwältin Claudia Kasper wertete die Tat als versuchte vorsätzliche Tötung. Sie forderte eine Strafe von 15 Jahren und anschliessende Verwahrung. Der Mann habe aus Wut, Rache und Hass gezielt und bewusst geschossen; unter anderem, weil sein Kontrahent aus der Naziszene ausgestiegen sei. Sie verwies auf eine Whatsapp-Nachricht, die der Beschuldigte nach der Tat mit dem Handy verschickt hatte: «Verrat ist nicht verzeihbar, deshalb das.» Das psychiatrische Gutachten prognostiziert beim Beschuldigten eine hohe Rückfallgefahr. Er leide unter einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Seit seiner Jugend würden sich seine Gedanken vor allem um Gewalt drehen. Da der Mann eine stationäre Therapie im Gefängnis ablehne, müsse er verwahrt werden.
Notwehrexzess geltend gemacht
Der Rechtsbeistand des Opfers verlangte gar eine Verurteilung wegen versuchten Mordes. Das Opfer, ein um zwei Jahre älterer Maurer, war früher ebenfalls Mitglied der rechtsextremen Szene gewesen. Er habe dieser Gesinnung aber abgeschworen. Sebastien N. habe sich dafür rächen wollen. Der Verteidiger von Sebastien N. verlangte eine Strafe von drei Jahren wegen eventualvorsätzlicher schwerer Körperverletzung sowie eine ambulante Therapie. Sein Mandant habe in einem Notwehrexzess gehandelt.
Am Abend verkündete das Gericht das Urteil: zwölf Jahre Freiheitsentzug wegen versuchter vorsätzlicher Tötung mit anschliessender Verwahrung. Während des Strafvollzugs soll er ambulant behandelt werden. Der Vorsitzende Roland Heimann begründete die Verwahrung damit, dass Sebastien N. sich gegen eine stationäre Massnahme gewehrt habe: «Sie haben die Weichen selber so gestellt.» Für das Gericht war es kein Notwehrexzess, sondern eine vorsätzliche Tötung. Dass es ein Racheakt unter Gesinnungsgenossen war, glaubt es nicht. Sebastien N. habe vielmehr wegen einer früher erlebten Kränkung die Waffe auf sich getragen und sie wegen einer banalen Schubserei eingesetzt.
Unterstützung
Hells Angels im Gerichtssaal
Sebastien N. bekam vor Gericht Unterstützung. Mehrere Hells Angels nahmen während der Verhandlung in der hintersten Zuschauerreihe Platz. Gemäss Informationen des TA hat Sebastien N. einzelne von ihnen im Gefängnis kennen gelernt. Die Rocker grüssten den Beschuldigten beim Betreten und Verlassen des Saals. N. nutzte seine Kleidung für ein Zeichen an seine Supporter. Auf der Rückseite seines T-Shirts stand: «Don’t mess with the big red machine» (sinngemäss: Leg dich nicht mit der grossen roten Maschine an). Die Hells Angels gelten wegen ihrer Clubfarben in der Rockerszene als «rote Maschinen». (tok)