Judenhasser im Dorf? Sehr wohl.

Thurgauer Zeitung: Bruno Gideon war Gründer der Discounterkette Pick Pay, erfolgreicher Buchautor und Geldonkel der Nation. Vor allem aber war er Weinfelder – und Jude. Weshalb er 1942, mitten im Krieg, die Weinfelder Schule verliess, ist bis heute ungeklärt. Eine Spurensuche von Esther Simon.

WEINFELDEN. Gelegentlich sind gutgemeinte Nachrufe voller Zündstoff. Wie ein Text in der «NZZ am Sonntag» vom 11. Oktober. Er würdigt den Geschäftsmann Bruno Gideon, der Anfang Oktober im Alter von 84 Jahren verstorben ist. Im Nachruf heisst es, Gideons Lehrer an der Weinfelder Schule habe sich geweigert, den Buben weiter zu unterrichten. Wenn man weiss, dass Bruno Gideon jüdisch war und 1942 – also mitten im Krieg – die Weinfelder Schule verliess, drängen sich schon ein paar Fragen auf. Hat sich der Lehrer tatsächlich geweigert, den jungen Gideon weiterhin zu unterrichten, wie auch andere Autoren vor dem Artikel in der «NZZ am Sonntag» behauptet hatten? Und wenn ja: War Antisemitismus im Spiel? Oder hatte irgendjemand Druck auf den Lehrer, die Schulbehörde, den Buben oder dessen Familie ausgeübt?

Tatsache ist, dass Gideon ab 1942 während fünf Jahren die Landerziehungsanstalt in Kefikon besuchte.

Tatsache ist aber auch, dass der Weinfelder Bürgerarchivar Franz Xaver Isenring im Auftrag der Thurgauer Zeitung sämtliche Protokolle der Weinfelder Schulbehörde der Jahre 1940 bis 1943 durchforstete und keinen einzigen Hinweis fand, dass der Lehrer sich geweigert habe, den Buben weiterhin zu unterrichten geschweige denn, dass Gideon von der Schule geflogen wäre. «Wenn der Lehrer sich geweigert hätte, Bruno Gideon weiter zu unterrichten, stünde das sicher in einem Protokoll», sagt Isenring, der selbst Lehrer war.

Gescheit, aber unbequem

Ehemalige Schulkollegen von Gideon sagen, er sei ein gescheiter Bub gewesen, «manchmal halt ein bisschen unbequem und ein bisschen unzuverlässig.» Es sei für alle Schüler unerklärlich gewesen, dass Bruno Gideon plötzlich nicht mehr in die Schule kam. In einem Interview mit der Weinfelder Journalistin Kathrin Zellweger vom Herbst 2003 hatte Gideon selber gesagt, er sei ein schlechter Schüler und wahrscheinlich halt auch ein schwieriges Kind gewesen. Und: Nur einmal habe er unter Antisemitismus leiden müssen, und das sei im Knabeninternat in Kefikon gewesen. Auf diesem Hintergrund ist es tragisch, wenn Franz Xaver Isenring vermutet, dass es letztlich der freie Entschluss der Eltern war, das Kind in Kefikon zur Schule zu schicken.

Bruno Gideon wurde 1931 als Kind von Rosa und Leo Gideon geboren. Der Vater, Viehhändler und Landwirt im Aeuli, wirtete mit seiner Frau von 1933 bis 1946 im «Trauben» in Weinfelden. Rosa Gideon war eine gütige Frau. In den Kriegsjahren erhielten Verfolgte und Heimatlose bei Gideons – oft der ersten Station auf Schweizer Boden – gratis Essen und Unterkunft und manch aufmunterndes Wort. In Erinnerung an Rosa Gideon wurde nach deren Tod der Rosa-Gideon-Fonds eingerichtet, aus dem bis 2007 die bäuerliche Heimpflege unterstützt worden war, wie im Thurgauer Frauenarchiv zu lesen ist. Der Weinfelder Journalist und Historiker Markus Schär erfuhr von seinen Eltern, dass Rosa Gideon einen sagenhaften Ruf als Wohltäterin genoss. Dass die Familie Gideon unter Antisemitismus zu leiden gehabt hätte, könne er sich aus diesem Grund nicht vorstellen.

Einen ausgezeichneten Ruf als Wohltäterin genoss auch Rolande Gideon. Sie war die Ehefrau von Siegfried Gideon gewesen, dem Bruder von Bruno Gideon. Siegfried Gideon hat sich vor oder nach Besuchen in der Synagoge in Zürich regelmässig mit Frontisten im Zürcher Hotel Central geprügelt, wie Klara Obermüller 1988 in der «Weltwoche» schrieb. Siegfried Gideon war ebenfalls ein geachteter Mann in Weinfelden. Während Jahren hatte er als Politiker im Hintergrund die Fäden gezogen. Bis zu seinem Tode soll Siegfried Gideon eine Liste mit den Namen jener Leute aufbewahrt haben, die sich damals mit ihm geschlagen hatten. Die Liste sei heute nicht mehr vorhanden, sagt einer von Siegfried Gideons drei Söhnen, Robert Gideon.

Tatsache ist, dass es in Weinfelden keine Berichte über die Zeit des Zweiten Weltkrieges gibt – ganz im Gegensatz zur Zeit von 1914 bis 1918, die gut erforscht ist. Kein Verlass ist in dieser Hinsicht auch auf den verstorbenen Lokalhistoriker Hermann Lei: Er schweigt die Weinfelder über diese Zeit in seinem Weinfelder Buch beharrlich an.

Fast keine Fotos

«Das hat vielleicht damit zu tun, dass Lei damals in Berg wohnte», sagt Martin Sax, der ehemalige Gemeindeschreiber. «Um Näheres zu erfahren, müsste man schon alle Gemeinderatsprotokolle lesen.» Auch Fotos aus dieser Zeit sind praktisch keine vorhanden. Was möglicherweise damit zu tun hat, dass der Dorffotograf Karl Enz im Aktivdienst war und nicht fotografieren konnte. «Man hat damals ohnehin noch nicht so viel fotografiert», sagt Sax, «vieles war auch geheim.»

Nun soll ja keiner glauben, dass es in Weinfelden keine Frontisten, also Anhänger der völkischen Idee, beziehungsweise Antisemiten gegeben hätte. Zwar geistern Namen im Dorf herum, aber man nennt sie nur hinter vorgehaltener Hand. Albert Schoop dagegen schreibt in seiner Geschichte des Kantons Thurgau Klartext: Ortsgruppenleiter in Weinfelden war Rudolf Pawlenka, in Diessenhofen war der Dirigent der Stadtmusik, Kurt Fielitz, nationalsozialistischer Bannerträger. Auch von anderen Thurgauer Ortschaften sind fröntlerische Umtriebe bekannt, namentlich aus Amriswil.

Offenbar nicht interessant

Bei alledem: In der Sendung «NZZ-Format» vom 24. Oktober sagte NZZ-Chefredaktor Eric Gujer, es sei eine Gnade, dass sich die Menschen in der Schweiz nicht so an diese Zeit erinnern müssten. Der Zufall will es, dass soeben ein Buch über den ehemaligen Winterthurer Frontisten Hans Kläui erschienen ist. Von seiner Frontistenzeit habe sich Kläui nie distanziert, schreibt Buchautor Daniel Gut. «Es interessierte sich offenbar auch niemand dafür.»

Tausendsassa

Das verrückte Leben des Bruno Gideon aus Weinfelden

Bruno Gideon wurde 1931 in eine jüdische Familie in Weinfelden geboren. 1968 gründete er den Discounter Pick Pay (nimm viel, bezahl wenig), den er 1982 verkaufte. Mit dem Geld aus dem Verkauf gründete Gideon Microspot. Nach dem Verkauf der Computergeschäfte war er der erfolgreiche «Geldonkel» im «Beobachter». Danach begann Gideon Bücher zu schreiben und wanderte 1996 nach Kanada aus. Hin und wieder besuchte er seine Verwandten in Weinfelden. (es.)

Schweizer Faschisten

Die Frontisten

Der Frontismus war die Parallele zum Nationalsozialismus und zum Faschismus; er forderte die Erneuerung der Schweiz auf völkischer Basis. 1933 erreichten Frontisten in Schaffhausen einen Wähleranteil von 27 Prozent. (es.)