Basler Zeitung: Der Kosmopolit
Der türkische Ultranationalist Dogu Perinçek hat in der Schweiz mehrfach öffentlich den vom osmanischen Reich begangenen Genozid an den Armeniern als «internationale Lüge» bezeichnet. Dafür wurde er 2007 aufgrund der Rassismus- Strafnorm, die die Leugnung eines Genozids unter Strafe stellt, verurteilt. Nun hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EMRGH) seinerseits die Schweiz wegen Verletzung von Perinçeks Meinungsäusserungsfreiheit zu einer Entschädigung an diesen verpflichtet.
1915-1916 wurden in Anatolien die rund zwei Millionen Armenier bis auf wenige Tausend ausgerottet. Männern und Burschen wurde meist die Kehle durchgeschnitten, sie wurden aufgehängt, ertränkt, erstochen oder erschossen. Frauen, Alte und kleine Kinder schickte man auf Todesmärsche durch die Wüste und verbot der lokalen Bevölkerung entlang des Weges bei Todesstrafe jegliche Hilfestellung. Nur eine Minderheit von wenigen Hunderttausend überlebte die Todesmärsche und fand vor allem in Libanon, Syrien und Frankreich Zuflucht. Allgemein ist man sich unter Historikern einig, dass es sich um den ersten Genozid der Moderne handelte. Lediglich die Türkei leugnet dies vehement und anerkennt bloss «tragische Ereignisse».
Die Strassburger Richter umgingen die Frage, ob es sich wirklich um einen Genozid handelte, sprechen aber Herrn Perinçek das Recht zu, dies zu leugnen. Sie nehmen damit eine Gratwanderung vor: Während die Leugnung des Holocaust an den Juden in Europa weiterhin strafbar bleiben soll, will man die mächtige Türkei nicht vor den Kopf stossen, zumal sie für den Fall einer Gutheissung des Schweizer Urteils gar mit dem Austritt aus dem Europarat gedroht hatte. Vor allem aber masst sich der EMRGH einmal mehr an, Grauzonenfälle zu entscheiden, statt im Sinne des eben erst vom Europarat bekräftigten Subsidiaritätsprinzips den Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten zu respektieren, wenn man in gutem Treuen geteilter Meinung sein kann. Damit agiert der Gerichtshof als Instanz europäischer Rechtsvereinheitlichung und unterminiert unter Überdehnung seines Mandats die Souveränität der Europaratsstaaten. Dies widerspricht diametral dem Grundgedanken der EMRK, die lediglich den Respekt elementarster Menschenrechte sicherstellen wollte.
Das Urteil zeigt indes nicht nur die Fragwürdigkeit der zunehmend verpolitisierten Strassburger Justiz, sondern auch der schweizerischen Rassismus-Strafnorm: Es dürfte weitgehend unbestritten sein, dass Hetze gegen fremde Menschen und namentlich Aufrufe zu Gewalt und Diskriminierung unter Strafe zu stellen sind. Schon heikler wird es, wenn statistische Tatsachen nicht mehr öffentlich formuliert werden dürfen, weil sie gewisse Bevölkerungsgruppen in ein unvorteilhaftes Licht stellen. Auch kann man sich fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, die Leugnung historischer Fakten wie der Völkermorde an Armeniern, Juden oder Tutsis unter Strafe zu stellen. Zum einen gerät man so rasch in Abgrenzungsprobleme, wie im vorliegenden Fall: Man nötigt die Richter, historische Vorkommnisse in weit entfernten Ländern autoritativ zu werten und damit potenziell auch die Beziehungen der Schweiz zu andern Staaten zu belasten und/oder sich dem Vorwurf auszusetzen, mit zweierlei Ellen zu messen.
Zum andern leistet man Verschwörungstheorien Vorschub, wonach es etwas zu verbergen gebe, wenn gewisse historische Ereignisse nicht mehr kontrovers diskutiert werden dürften. Die USA sind hier für einmal vorbildlich und geben der Meinungsfreiheit Vorrang, unabhängig davon, wie absurd und tatsachenwidrig die geäusserten Meinungen sind. Diese Haltung wird auch und gerade von der grossen und einflussreichen jüdischen Minderheit mitgetragen. Es gibt gar jüdische Anwälte, die das Recht von Neonazis auf Demonstrationen und auf Verbreitung ihrer absurden Thesen vor Gericht verteidigt haben.
Die Bestrafung der Leugnung historischer Tatsachen ist hingegen ein Produkt deutscher Gründlichkeit und Staatsgläubigkeit vor dem Hintergrund der unsäglichen Verbrechen, welche das Dritte Reich beging. Die schweizerische Haltung in derartigen Fragen steht der amerikanischen traditionell weit näher und unsere historische Ausgangsposition ist eher der amerikanischen als der deutschen vergleichbar. Die ausgreifende Formulierung der Rassismus-Strafnorm dürfte neben der seinerzeitigen Diskussion um die Holocaust-Gelder auch dem wachsenden deutschen Einfluss an unseren historischen und juristischen Universitätsfakultäten zu verdanken sein. Sie entspricht jedenfalls nicht dem freiheitlichen Geist unseres Landes. Das Strassburger Urteil bietet einen willkommenen Anlass, diese Gesetzesbestimmung auf ihren notwendigen Kerngehalt eines Verbots der Aufhetzung gegen einzelne Volksgruppen und namentlich des Aufrufs zu Gewaltanwendung oder Diskriminierung zurückzuführen. Die Wertung geschichtlicher Ereignisse ist die Aufgabe von Historikern und nicht der Richter!