«Liebe wird immer über Hass siegen»

Sonntagsblick: Shlomo Graber überlebte die Hölle des Holocaust. Jetzt erzählt der 89-Jährige seine bewegende Lebensgeschichte in einem Buch.

INTERVIEW: FOTO: STEFAN BOHRER

Basel, Missionsstrasse 24. Wir klingeln bei Shlomo Graber. Es öffnet ein sanft lächelnder Herr mit schlohweissem Haar und hellem Bart. Hinter der Brille funkelt ein wacher Blick. 89 Jahre alt wird dieser stämmige Mann in ein paar Tagen und strotzt nur so vor Vitalität. Ein Spital von innen gesehen habe er als Patient noch nie, sagt er stolz. Und bei Vorträgen stehe er grundsätzlich, auch wenn diese mal länger als die geplante Stunde dauern sollten.

Shlomo Graber zuhören kann man in der Tat stundenlang. Er hat ein unglaubliches Leben hinter sich. Ein Leben mit unfassbar viel Leid – und unfassbar viel Glück.

1926 in den Karpaten der Tschechoslowakei geboren, siedelte er mit seiner jüdischen Familie 1931 ins ungarische Nyirbator um. Während des Zweiten Weltkrieges erlebte er die Hölle des Holocaust: Er und seine Familie wurden zweimal deportiert, in Auschwitz ermordeten die Nazis fast seine ganze Familie. Er selbst überlebte drei Konzentrationslager und den Todesmarsch von Görlitz.

Nach seiner Befreiung am 8. Mai 1945, vor 70 Jahren, war er 18 Jahre alt. Er wanderte nach Israel aus, gründete dort eine Familie und wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann. Vor 25 Jahren lernte er seine jetzige Frau Myrtha (72) kennen. Seither lebt er in Basel. Mit 70 begann Shlomo Graber mit Malen. Überall in der Wohnung hängen seine farbenfrohen Bilder, die er auch schon an Ausstellungen zeigte.

Letztes Jahr hat er seine Lebensgeschichte auf Tonband gesprochen. 60 Stunden dauern die Aufnahmen. Daraus ist nun ein fast 400-seitiges Buch entstanden. Untertitel: «Sie vernichteten meine ganze Familie, aber meinen Glauben an das Gute konnten sie mir nicht nehmen.»

Shlomo Graber, mit fast 90 Jahren werden Sie jetzt noch Buchautor. Was hat Sie getrieben?

Shlomo Graber: Ich will als Lebenszeuge das erzählen, was sich niemals wiederholen darf!

Erzählen, was sich nicht wiederholen darf: Grabers Erinnerungen sind stellenweise sehr bedrückend, obwohl er die Bestialitäten des Holocaust nicht noch einmal in allen Details wiedergeben mag. Unvorstellbar die Szenen auf der Todesrampe im Konzentrationslager Auschwitz, wo ein SS-Arzt mit einem Stöckchen in der Hand die Juden aussortiert – als Dirigent des Todes. Shlomo, damals 17, und seinen Vater winkt der SS-Scherge nach links durch. Seine Mutter mit dem jüngsten Sohn auf den Armen muss nach rechts, ebenso Shlomos andere drei Geschwister, eine Cousine sowie seine Grossmutter.

Nach rechts: Das ist der Weg in die Gaskammern. Eine Stunde später sind alle tot. «Dieses Bild, wie sie dort meiner Sicht entschwanden, hat sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt und taucht von Zeit zu Zeit wieder auf. Ich denke, es wird niemals verwischen», schreibt Graber dazu in seinem Buch.

Nach all diesen schrecklichen Erlebnissen: Woher nehmen Sie Ihre Stärke und Zuversicht?

Ich habe meinen Glauben an einen gerechten Gott verloren. Dass will aber nicht heissen, dass ich Atheist bin. Ich glaube an die Natur und das Gute im Menschen. Für mich ist nicht relevant, was nachher ist, sondern wie wir uns in unserem Leben verhalten. Wenn ich mich von der Welt verabschiede, kann ich sagen: Ich habe keine Schulden, war nie vor Gericht, ich habe keinen Menschen getötet, nicht einmal Tiere töte ich. Ich bin Vegetarier, seit mehr als zehn Jahren schon.

Warum?

Weil ich sah, wie Tiere behandelt werden – wie damals Menschen in Konzentrationslagern. Da habe ich aufgehört, Fleisch zu essen.

Was ist Ihr Rezept fürs Glücklichsein?

Erstens: Sei nicht abergläubisch, das ist Unsinn. Zweitens: Sei zufrieden mit dem, was du hast. Wer zufrieden ist, verbessert sich automatisch und mühelos. Drittens: Hüte dich vor falschem Ehrgeiz.

Im Buch beschreiben Sie, wie Sie nach dem Krieg mit einem Gefühl der Genugtuung Hinrichtungen verfolgten. Kommt manchmal noch der Wunsch nach Rache auf?

Rache? Nein. Hinrichtungen zu verfolgen, wie damals? Nein, dazu wäre ich nicht mehr in der Lage, schon lange nicht mehr.

Wie war es, als Sie zum ersten Mal nach Deutschland zurückgingen?

Ich hatte keine Probleme damit, in Deutschland begegnet man mir mit viel Sympathie. Die heutige Generation hat ja auch mit den Verbrechen von damals nichts mehr zu tun – das betone ich auch bei meinen Vorträgen.

Sie würden sogar vor Neonazis sprechen, hat man mir gesagt.

Ja, ich wurde einfach noch nie eingeladen. Ich glaube, dass ich als Zeitzeuge bei solchen Leuten einiges bewirken könnte.

Erzählen, was nicht vergessen werden darf. Eindringlich schildert Graber im Buch die letzte Etappe seines Leidensweges unter den Nazis: den Todesmarsch von Görlitz. Als die Russen anrückten, befahl NSDAP-Kreisleiter Bruno Malitz die Räumung von Görlitz. Graber und alle anderen Gefangenen wurden gezwungen, nach Rennersdorf zu marschieren. Wer vor Schwäche zusammenbrach, wurde sofort erschossen. Am 23. März erging der Rückmarschbefehl: Die Häftlinge sollten in Görlitz Schützengräben und Panzersperren gegen die anrückenden Russen errichten. Nur 500 von 1500 Gefangenen überlebten den Rückmarsch.

Am 8. Mai, vor 70 Jahren, wurden Sie befreit. Haben Sie damals überhaupt damit gerechnet?

Ja, im Grunde meines Herzens habe ich immer daran geglaubt. Vielleicht lag das auch an meinem unerschütterlichen Optimismus. Aber am Schluss hatte ich auch sehr, sehr viel Glück.

Warum?

Ich wog weniger als 30 Kilogramm, war unglaublich geschwächt. Durch den Vitaminmangel hatte sich eine Wunde gebildet, die bis auf den Knochen offen war. Ein Arzt sagte mir, weitere drei Wochen in Gefangenschaft hätte ich nicht überlebt.

Nächstes Jahr werden Sie 90. Was sind Ihre Pläne?

(Lacht) Denken Sie ja nicht, ich sei alt! Ich fühle mich jung, ehrlich! Nach dem Buch werden wohl noch viele Anfragen für Vorträge und Lesungen kommen – kein Problem für mich.

Mit welcher Botschaft?

Gebt niemals auf im Leben. Und vergesst nie, dass die Liebe immer über den Hass siegen wird!