Der Bund vom 05.05.2012
Wenn ein Kind in den Bann des Rechtsextremismus gerate, sei das etwa das Gleiche, wie wenn man es an eine Sekte verliere: Dies sagt die Mutter eines Jugendlichen, der in Wimmis mit ausländerfeindlichen Aktivitäten aufgefallen ist. Ihr Sohn habe ausserhalb der Familie oft Ablehnung erfahren, sagt sie – «und dann kommt ausgerechnet so eine Gruppierung».
Dölf Barben
Du bist anders als wir. Mit dir wollen wir nichts zu tun haben: Solche Ablehnung habe ihr Sohn schon im Kindergarten erlebt. Ursula Meier* wohnt im Wimmiser Oberdorf in einer Mietwohnung in einem alten, grossen Haus. Sie sitzt am Küchentisch und erzählt von Luca*. Der 14-Jährige war Anfang Jahr in Vorfälle involviert, die über das Dorf hinaus für Schlagzeilen sorgten. Nachdem an der Schule ausländische Jugendliche von einheimischen drangsaliert worden waren, schrieb der Gemeinderat, es seien bei Wimmiser Jugendlichen «in letzter Zeit vermehrt rechtsextremistische Tendenzen» festgestellt worden. Der «Bund» berichtete am 25. Februar darüber.
Luca war einer der beiden Hauptbeteiligten. Seine Mutter streitet nicht ab, dass ihr Sohn und sein um ein Jahr älterer Freund sich in der Schule plötzlich nichts mehr sagen liessen, Hakenkreuze auf Bücher und Pulte kritzelten, rassistische Sprüche gegen ausländische Schüler richteten und Schlägereien anzettelten – «bis die Schule dann reagiert hat». Und auch der Gemeinderat. Eines aber will sie nicht stehen lassen: dass sie als Mutter nicht aktiv geworden sei, wie das aus dem damaligen Zeitungsbericht herausgelesen werden konnte.
Schon letztes Jahr nach den Sommerferien, «als das alles angefangen hat», habe sie sich eingeschaltet. Als die beiden Freunde plötzlich Bomberjacken trugen und Luca die Schnürsenkel speziell zu binden begann und es nur noch weisse Schnürsenkel sein durften. «Luca hatte lange Haare», sagt Ursula Meier. «Das Schlimmste war für mich, als er eines Tages eine Tondeuse kaufte und sich die Haare abschnitt.»
«Die ganze Brutalität gesehen»
Sie hat mit der Mutter von Lucas Freund Kontakt aufgenommen. «Wir haben zusammen im Hintergrund funktioniert.» Bald sei sie an die Schulleitung herangetreten. Und, weil sie Familienbegleitung in Anspruch nehme, auch an die Vormundschaft. Sie wollte, «dass sie dort wissen, dass wieder etwas läuft, das Luca nicht gut tun wird». Seit der Trennung von ihrem Mann vor zweieinhalb Jahren betreut sie den Sohn und die drei Töchter im Alter von 11 bis 21 Jahren allein.
Zunächst habe niemand reagiert, sagt sie. Wahrscheinlich habe man gedacht, diese Mutter sei «ein bisschen hysterisch» – dabei habe es ihr Angst gemacht, «weil ich die ganze Brutalität gesehen habe, die dahintersteckt» – auf Lucas Facebook-Seite: «Dieser ganze Rassismus, der dort abläuft, das ist krass.» Aber Ursula Meier will nicht nur den Eindruck korrigieren, sie sei inaktiv geblieben. Sie hat sich entschlossen, ihre Geschichte zu erzählen, weil es nicht nur um ihren Sohn gehe. «Es geht um die Zukunft von ganz vielen Kindern, die genau die gleichen Probleme haben werden – wenn sich nichts verändert.» Dass ihr Sohn selber Auskunft gibt, möchte sie im Moment nicht.
«Liebenswerte Seite verschüttet»
Beide, also ihr Sohn und dessen Freund, hätten es von klein auf nicht einfach gehabt, erzählt Ursula Meier. Beide seien in der Schule oft von Mitschülern und Lehrern abgelehnt worden. Bei ihrem Sohn führt sie es vor allem auf ADHS zurück, die berüchtigte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Schon als kleiner, herziger Bub sei er «ziemlich anstrengend» gewesen. Wenn er wegen seines Verhaltens von anderen Kindern abgelehnt worden sei, «hat mich das immer traurig gemacht». Denn Luca sei nicht nur wild und schwierig gewesen. «Wenn eine alte Frau im Coop etwas verloren hatte, war er der Erste, der hinzueilte und es aufhob.» Diese «andere, liebenswerte Seite» ihres Sohnes sei im Laufe der Zeit durch «all die Ablehnung und das Geplagtwerden verschüttet worden». An ihre Stelle traten Selbstzweifel. Oft habe Luca gesagt, er wolle gar nicht mehr leben, niemand habe ihn gern. «Das ist der Hintergrund», sagt sie.
Provokationen von Ausländern?
Dass Luca wegen Kleinigkeiten massiv reagieren konnte, habe ihm früh Schwierigkeiten eingetragen. «Oft musste er den Kopf hinhalten für Dinge, die er gar nicht zu verantworten hatte.» Und, sagt sie, mehrheitlich seien es ausländische Schüler gewesen, die seine Schwäche ausgenutzt hätten. Tatsächlich? Ja, sagt sie. Es sei heikel, diesen Mechanismus zu beschreiben, aber man müsse eben auch diesen Aspekt betrachten. Dass Rassismus abgelehnt werde, wüssten die ausländischen Schüler auch. Ebenso hätten sie stets gewusst, dass sie bei ihrem Sohn und seinem Freund mit «Sticheleien» Reaktionen hervorrufen konnten – ohne dafür bestraft zu werden.
Hier ist bei Ursula Meier Kritik an der Schule herauszuhören. Vor allem in früheren Schuljahren hätten die Lehrer zu wenig hingeschaut, sagt sie. Weil Luca oft aufbrausend und laut gewesen sei, habe niemand mehr das Subtile wahrgenommen, das dahintersteckte. «Er fühlte sich ungerecht behandelt.» «Deshalb», glaubt sie, «begann Luca, Ausländer schliesslich abzulehnen.» Nachdem er und sein Freund sich im letzten Herbst klar als Rechtsextreme zu erkennen gegeben hätten, «spitzte sich alles zu».
Outing nach dem SVP-Anlass
Aufhorchen lässt der Zeitpunkt des «extremen Outings», wie es Ursula Meier nennt. Am 3. September letzten Jahres fand in Wimmis eine Wahlveranstaltung der SVP statt. Als Redner traten Schwergewichte wie Christoph Blocher und Adrian Amstutz auf. Luca und sein Freund waren dabei. «Als er nach Hause kam, war er völlig fasziniert.» Ihr Sohn habe sich bestätigt gefühlt. Die am Anlass geäusserte Einstellung, dass man Ausländer, «die hier ‹Lämpe› machen», nicht mehr tolerieren wolle, habe ihm gezeigt, dass er selber nicht falsch liege. Wenige Tage danach habe er sich den Kopf rasiert. Von da an sei er überzeugt gewesen, «dass man Ausländer nicht tolerieren darf, dass man sie ‹klopfen› muss, dass sie raus müssen». Aber eines habe ihr Sohn nicht gemerkt: «Dass er da in etwas komplett Falsches hineinrutscht.»
Informationen zur Gruppierung, die Luca schon vorher in ihren Bann gezogen hatte, bleiben vage (siehe Artikel rechts). Genaueres wisse sie selber nicht, sagt die Mutter. Die Verbindung laufe über seinen Freund und dessen 19-jährigen Bruder, der dort Mitglied sei. Ursula Meier spricht von einer «starken Loyalitätskette». Als sie davon erfahren habe, habe sie heftig reagiert und über die Gruppe geflucht – bis sie gemerkt habe, dass es das Gegenteil bewirkte, dass Luca ihr noch stärker zu entgleiten drohte.
«Hier liegt meine Chance»
Statt Detektivarbeit zu leisten und alles zu verurteilen, versuche sie, mit ihrem Sohn auf der Herz- und Gefühlsebene in Kontakt zu bleiben. «Hier liegt meine Chance, etwas verändern zu können». Luca sei die Harmonie in der Familie wichtig. Deshalb habe sie ihm klargemacht, dass die Familie überlastet werde, wenn es bei allen Gesprächen in der Schule und auf der Gemeindeverwaltung immer nur um ihn gehe, dass sie das nicht weiter ertragen könne, dass sie zusammenbreche. «Als ich das gesagt hatte, schien mir, als hätte es gedreht.»
Ursula Meier spricht oft vom «Innen» und vom «Aussen». In der Familie, «im Innen», habe sie Luca immer zu verstehen gegeben: «Hey, du bist gut, es ist schön, dass es dich gibt.» Ausserhalb der Familie aber habe er das Gegenteil erfahren. Bis letzten Sommer. «Dann kommt ausgerechnet so eine Gruppierung. Und zum ersten Mal hört er ‹im Aussen›: ‹Wir akzeptieren dich so, wie du bist. Wir stehen zu dir, egal, was passiert.›» Für Ursula Meier ist nach zahlreichen Gesprächen mit ihrem Sohn und dessen Freund klar, dass für die beiden dieses «Angenommensein ohne Vorbehalt» ausschlaggebend war. Weil es in einer solchen Gruppe Geborgenheit erfahre, sei es fast unmöglich, einem Kind klarzumachen, dass etwas Gefährliches dahinterstecke. «Es ist, wie wenn ein Kind an eine Sekte verloren geht.»
Ursula Meier will nichts verschreien, inzwischen spricht sie aber von einer «guten Wende». «Weil alle reagierten – die Jugendarbeit, die Schule, die Gemeinde – kam von allen Seiten Druck.» Auch von seinen Schwestern, vor allem von der ältesten, sei Luca «teils massiv» mit Kritik eingedeckt worden. Seinen Freund sehe er «zwangsläufig» weniger – dieser musste die Schule vorzeitig verlassen. Anfangs habe sie gemerkt, wie Luca heftige innere Kämpfe ausgetragen habe. Jetzt sei er viel ruhiger geworden. Die Haare rasiere er nach wie vor.
«Überhaupt keine Ahnung»
«Hinschauen» ist ein Wort, das Ursula Meier oft in den Mund nimmt. Hinschauen soll auch ihr Sohn. Von der historischen Dimension des Rechtsextremismus und des Nationalsozialismus habe dieser «überhaupt keine Ahnung» gehabt. Sie habe ihm Geschichten erzählt, von Judenverfolgungen und Gaskammern. Als sie ihm vor Augen geführt habe, dass auch kleine Kinder getötet worden seien, «hat er wirklich fast geweint».