www.swissinfo.ch vom 16.04.2012
In der Schweiz gibt es wegen der föderalistischen Struktur keine umfassenden Rassismus-Daten. Für Martine Brunschwig Graf von der Rassismus-Kommission sind Zahlen aber weniger dringend als der Umstand, konkret etwas gegen Rassismus zu unternehmen.
„Kein Gesetz kann einem das Denken verbieten“, sagt Martine Brunschwig Graf, die neue Präsidentin der Eidg. Kommission gegen Rassismus (EKR).  „Das ist  auch gut so. Aber andererseits kann es einem die Aufgabe erschweren.“ Denn weder Befragungen noch  Untersuchungen dringen bis  ins Gewissen des Einzelnen vor.  Und so fehle es eben in der Schweiz an einem Mess-Instrumentarium,  so  Brunschwig Graf.  Die 26  kantonalen  Polizeidienste sammeln Daten über die Gewalt im Allgemeinen. Wie  bei der  EKR aber werden nur jene  Fälle erfasst,  in denen  gegen das Strafgesetz über die Rassendiskriminierung verstossen wird  (Art. 261bis).  Laut den eidgenössischen Statistiken haben die Verstösse gegen diesen Artikel von 204 im Jahr 2010 auf 182 im  Jahr 2011 abgenommen. Doch das  Gesetz  bleibe „eher vage formuliert und fasst verschiedene Szenarien zusammen“, gibt  Olivier Guéniat,  Kriminologe und Polizeikommandant der Kantons Jura, zu bedenken.  Die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) gibt seit 25 Jahren eine jährliche Chronologie des Rassismus in der Schweiz heraus. Zusammen mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) publiziert die GRA Daten für die deutschsprachige Schweiz. Daten für die französischsprachige Schweiz liefert die  „Coordination Intercommunautaire Contre l’Antisémitisme et la Diffamation“ (CICAD).
Leicht zu erklären, schwer zu zu ändern
Ausserdem weichen die Daten voneinander ab – das erschwert es, sich eine präzise Idee zur Situation zu machen. „Jede Organisation hat ihre eigene Methode der Aufzählung, der Definition, was Rassismus ist und wie schwer ein rassistischer Akt einzuschätzen ist“, sagt GRA-Präsident Ronnie Bernheim.  Wird zum Beispiel ein  Flugblatt in einer Stadt und einen Monat später in einer anderen Stadt ausgeteilt – ist dies nun als ein Akt  oder als zwei Akte zu zählen? Wie soll gezählt werden, wenn dasselbe Flugblatt in 5 Städten gleichzeitig verteilt wird? Und wie, wenn sechs Monate nach der Verteilung eine Person, die das Flugblatt gelesen hat, eine Gewalttat verübt?  „Und würden  wir unsere  Kriterien, wie die Vorfälle zu gewichten sind,  ändern, könnten wir keine Vergleiche mehr mit der Vergangenheit machen“, so Bernheim gegenüber swissinfo.ch. Anderseits habe die Existenz der neuen Medien die  Gegenwart verändert: „Je mehr wir Internet-Blogs überwachen, desto mehr Tatbestände finden wir.“  Martine Brunschwig Graf bestätigt, dass die grosse Schwierigkeit darin liege, die verschiedenen Methoden  unter einen Hut  zu bringen. Die Kantone offerierten vermehrt Beratung. Doch für eine  Konsolidierung der  Betrachtungsweise  brauche es Zeit, „denn die Schweizer sind von zentralisierten Statistiken nicht begeistert“.
Zunehmende Gewalt?
Die Westschweizer CICAD  gibt sich  in  ihrem Bericht 2011 beunruhigt über die „Zunahme der Schwere der Fälle“ seit Beginn der Zählungen.  Seitens der Rechtsextremen sei zwar die Situation zur Zeit ruhig, so Guéniat, aber: „Die Aktualität in Syrien und den arabischen Ländern führt zu einer Radikalisierung  in gewissen antiisraelischen Kreisen.“ Er verweist auf die jüngsten Terror-Anschläge in Frankreich und eventuelle Folgen für Genf. „Doch  im Vergleich zur  Bevölkerungszahl bleibt die Gewalt in der Schweiz äusserst klein.“
Die Unterschiede machen Angst
In der Schweiz leben 20% Ausländer. Anderseits  kommen in  Genf, im Tessin und in Basel täglich Zehntausende von Grenzgängern in die Schweiz. Dagegen führt die  populistische Rechte offen diskriminierende Kampagnen und streicht ihren wachsenden Widerstand gegen den freien  Personenverkehr heraus.  Die Intensität der Ablehnung mit der Höhe des  Ausländeranteils in  Verbindung zu bringen ist laut Brunschwig Graf jedoch zu einfach: „In Genf leben mehr als 40% Ausländer. Schaut man jedoch die Resultate von ausländerspezifischen Vorlagen an, zeigt sich, dass die Genfer nicht ausländerfeindlich stimmen, sondern im Gegenteil eine vergleichsweise hohe Integrations- und Toleranzfähigkeit aufbringen.“  Das habe sich beispielsweise beim Minarettverbot gezeigt. Andererseits könne es gerade  in Gemeinden mit wenig Ausländern zu ablehnenden Resultaten kommen.  Für Brunschwig Graf ist  es der Unterschied, der Angst macht.“Ein wichtiger Teil unserer Arbeit muss darin bestehen, die  Mentalitäten einander  näher zu bringen.“ Dazu brauche es einen langen Atem. Umsomehr als in der Schweiz  die Gesellschaft zutiefst multikulturell geprägt sei.  Nach den ersten 100 Tagen im Amt hat sich Martine Brunschwig Graf vorgenommen, Vorbeuge-Aktionen den Vorrang zu geben, in Zusammenarbeit mit den Kantonen und den entsprechenden Organsationen vor Ort. Das heisst am Arbeitsplatz, in der Schule und im Sport.  „Diese drei Bereiche ermöglichen  eigentlich die Integration“, so Brundschwig Graf. „Sie sind aber gleichzeitig Orte, an denen die Gefahr der Diskriminierung gross ist.“ Man wisse, dass es am Arbeitsplatz zu Diskriminierungen komme, besonders bei der Anstellung.  „Bekannt ist auch, dass die Schulen dazu geeignet sind, die Kinder an den Umgang mit unterschiedlichen Menschen zu gewöhnen  und ihnen dies als Vorteil aufzuzeigen. Dasselbe gilt für den Sport.“
Schweiz hat Imageprobleme
Auch wenn man sich vergleichende Statistiken zu rassistischen Vorfällen aus anderen Ländern beschaffen könnte, stellt Ronnie Bernheim fest, dürfte die Schweiz nicht rassistischer als ihre  Nachbarn sein.  Nur habe sie im Gegensatz zu den Nachbarländern ein Imageproblem: „Die Aggressivität der Plakate der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei SVP hat ganz Europa geschockt“, sagt der GRA-Präsident.  Auch sei die Schweiz nach den USA und Kanada das liberalste Land, was die Meinungs- und Versammlungsfreiheit betreffe. Deshalb hätten zahlreiche internationale oder  Neo-Nazi-Organisationen ihre Webseiten in der Schweiz registriert.  Trotzdem: Weder die Rassismuskommission noch die GRA können verstehen, weshalb der Bundesrat vor zwei Jahren darauf verzichtet hat, rassistische Symbole wie das Hakenkreuz oder den Hitlergruss zu verbieten – mit der Begründung, ein Verbot wäre wohl schwierig durchzusetzen.
Isabelle Eichenberger,swissinfo.ch(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)