Basler Zeitung vom 22.11.2011
Von Daniel Vischer
Wie es möglich war, dass die «Döner-Morde» jahrelang unaufgeklärt blieben, kann noch niemand mit Gewissheit sagen. Unbestritten ist einzig ein gigantisches Versagen der zuständigen deutschen Polizei- und Sicherheitsbehörden und des Verfassungsschutzes. Nachdem freilich bekannt wurde, dass der thüringische Verfassungsschutz Ende der Neunzigerjahre drei Verbindungsleute auf das Zwickauer Neonazi-Trio angesetzt hatte, die mutmasslichen Mörder aber unerkannt abtauchen konnten, stellt sich schon die Frage: Handelt es sich um Pannen oder steckt mehr dahinter, nämlich klare Komplizenschaft? Auffallend ist, dass nach Taten wie den «Döner-Morden» jeweils sofort von Schutzgelderpressung und Mafia die Rede war, wie der abtretende Präsident der Anti-Rassismus-Kommission, Georg Kreis, im Interview in der «Sonntagszeitung» zu Recht betont. Der rassistische Kontext, der zwangsläufig zum rechtsextremen Umfeld führen müsste, blieb so vorerst ausgespart. Absichtlich oder nicht – es entspricht offensichtlich einer tiefgreifenden Mentalität bei Polizei- und Sicherheitsbehörden, solche falsche Prioritäten zu setzen, das ist augenfällig.
Ist das auch in der Schweiz so? Inzwischen wissen wir aufgrund eines Artikels in der «Sonntagszeitung» mehr über die geheime Liste des Schweizerischen Nachrichtendienstes. Dabei geht es um die «Liste der zu beobachtenden Organisationen und Gruppierungen 2011», jener Organisationen mithin, die im Fadenkreuz geheimdienstlicher Observation durch den Nachrichtendienst des Bundes, NDB, stehen. Total werden 23 Organisationen überwacht. Im Zentrum stehen Organisationen des «islamistischen Fundamentalismus» und solche, die als linksextrem gelten. Pikant ist, dass der rechten Szene im 20-seitigen Dokument ganze 20 Zeilen gewidmet sind; sie wird offenbar unter dem Stichwort «Skins» abgehandelt, worunter etwa 30 rechtsextreme Skinheadgruppen fallen sollen. Andere Organisationen, so lässt sich der Staatsschutz zitieren, seien nicht identifizierbar. Dies wiederum bezeichnet der Experte für die rechtsextreme Szene, Hans Stutz, als Unsinn und nennt diverse rechtsextreme Organisationen, die seit Jahren existieren und nicht unter die «Skinheadszene» subsumiert werden können, sehr wohl aber unter das massgebliche Staatsschutzkriterium des «gewalttätigen Extremismus» fielen.
Hierzu bedarf es einer Klarstellung. Es kann nicht darum gehen, jetzt, wo Mordtaten Rechtsextremer im Vordergrund stehen, blindlings nach mehr Staatsschutz zu rufen. Die bestehende Staatsschutzdoktrin, die auf Verfolgung des «gewalttätigen Extremismus» zielt, bedarf sehr wohl einer ständigen Hinterfragung. Überwachungsmassnahmen, die sich nicht auf eine individuell konkrete Straftat beziehen, was im Falle der «Döner-Morde» gerade nicht der Fall ist, können durchaus als rechtsstaatlich fragwürdig eingestuft werden. Hier geht es aber um den Vorwurf der Einseitigkeit. Um den konkreten Vorwurf, die rechtsextreme Szene würde nicht mit gleichen Massstäben behandelt wie die linksextreme. Dass dem so sei, wurde längst vermutet. Nun, so scheint es, liegt der Beweis schwarz auf weiss vor. Das bedarf einer dringenden Korrektur