SonntagsZeitung vom 20.11.2011
Der abtretende Präsident der Anti-Rassismus-Kommission, Georg Kreis, über die «rechtsradikale» SVP, einen bundesrätlichen Maulkorb, seine Eitelkeit und Taktiken, um eine Frau kennen zu lernen
Von Nadja Pastega, Sebastian Ramspeck (Text) und Stefan Bohrer (Fotos)
Eine gewisse Furchtlosigkeit muss man dem abtretenden Präsidenten der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus attestieren. Das schmiedeeiserne Tor vor dem Europainstitut in Basel ist an diesem Abend verschlossen – Georg Kreis, 68, mustert kurz den über zwei Meter hohen Zaun aus spitz zulaufenden Gitterstäben, hangelt sich hoch und klettert darüber. Per Knopfdruck entriegelt er das Tor von innen.
Sein herrschaftliches Chefbüro in der Villa des Europainstituts hat er geräumt und ist in das kleine «Dienstbotenzimmer» unter dem Dach gezogen. Lustraucher Kreis – Gauloise blau, filterlos – öffnet die Fensterluke, «sonst geht noch der Feueralarm los». Der emeritierte Professor, das Dozieren gewohnt, beginnt das Gespräch im Stehen.
Herr Kreis, Neonazis haben in Deutschland zehn Menschen ermordet – in einem Land, in dem die Politiker Nationalsozialismus und Rassismus ächten wie nirgendwo sonst.
Rassismus und Rechtsradikalismus gehören zur Normalausstattung unserer Gesellschaften. Man kann nicht ein ganzes Land für diese Phänomene verantwortlich machen. Auffallend ist allerdings, dass nach den Taten immer sofort von Schutzgelderpressung und Mafia die Rede war. Man hielt diese Spur für wahrscheinlicher.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen solchen Taten und dem politischen Klima?
Es gibt einen Zusammenhang zwischen Worten und Taten. Wer solche Taten begeht, fühlt sich ermuntert durch fremdenfeindliche Äusserungen. Auch wenn dann die, die diese Äusserungen gemacht haben, sagen können: Wir haben das nicht so gemeint! Es würde also zu nichts führen, wenn man die rechtsradikale SVP mitverantwortlich machte für die Schweizer Neonaziszene.
Wie bitte? Sie bezeichnen die SVP als rechtsradikal?
Nicht in der Gesamtheit. Der Freiburger Politikwissenschaftler Damir Skenderovic hat dieser Frage ein ganzes Buch gewidmet. Demnach zeichnen sich die Rechtsextremen dadurch aus, dass sie das System nicht akzeptieren. Die SVP ist zwar systemkonform, pflegt aber nicht bürgerliches, sondern in Teilen rechtsradikales Gedankengut.
Die SVP sagt, sie wolle gutschweizerische Traditionen bewahren – also das Gegenteil von «radikal».
Was ist schon gutschweizerisch? Gutschweizerisch wäre nach meinem Verständnis, eine Bundesrätin, die gewählt wurde und einen guten Job gemacht hat, wiederzuwählen.
Die SVP ist stark wie keine andere Rechtspartei in Europa.Zugleich gibt es in der Schweiz kaum rassistische Gewalttaten. Man könnte also auch sagen: Eine Rechtspartei dient als Blitzableiter, als Ventil.
Das ist eine Vermutung, die man anstellen kann. Aber man würde dann annehmen, dass kriminell veranlagte Menschen nicht kriminell werden, weil sie dafür SVP wählen. Das wiederum würde die SVP auf andere Art belasten.
Sie treten Ende Jahr als Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) zurück. Ihre Amtsführung wurde oft kritisiert.
Zunächst einmal ist die Fokussierung der Medien auf den Präsidenten der EKR unangemessen gross. Er muss vor allem präsidieren, also Sitzungen leiten und ein Sekretariat führen. Ich habe nie eine zentrale Rolle spielen wollen.
Sie gelten als eitel.
Eitel im Sinne: wahrgenommen werden, als wichtig eingestuft werden? Das war nie meine Absicht.
Man hört, Sie seien auch beim Bundesrat oft angeeckt.
In der Bundesverwaltung fragt man sich, ob es gut ist, dass sich die EKR zu Einzelfragen öffentlich äussert – obwohl das in ihrem Pflichtenheft so festgehalten ist. Demnach würde man es vorziehen, wenn die EKR nur noch gegen innen wirken würde. Vermutlich sieht das auch der gegenwärtige Departementsvorsteher Didier Burkhalter so. Wir müssen aber eine gesellschaftliche Rolle spielen. Fürs andere gibt es eine eigene Fachstelle für Rassismusbekämpfung.
Gegen innen wirken – was muss man darunter verstehen?
Dass man für die Bundesverwaltung Expertisen ausarbeitet …
… die dann in einer Schublade verschwinden?
So kann man das sehen.
Der Bundesrat will der Anti-Rassismus-Kommission einen Maulkorb verpassen?
Ich verstehe, wenn das Generalsekretariat des Innendepartements (EDI) wünscht, dass es über Stellungnahmen der EKR im Voraus informiert wird, um nicht überrascht zu werden. Wir sollten aber eine vollständig unabhängige Kommission sein. Da wir dies leider nicht sind, hat uns der Europarat vom Status B auf Status C zurückgestuft. Die Schweiz muss primär aus Eigeninteresse den Rassismus bekämpfen; sie muss sich aber auch bewusst sein, dass sie infolge internationaler Verpflichtungen gewisse Standards erfüllen muss.
Können Sie als scheidender EKR-Präsident erklären, was Sie unter Rassismus verstehen?
Rassismus geht davon aus, dass es negative Menschenkategorien gibt, denen bestimmte Eigenschaften fest zugeschrieben werden.
Wenn ein Schweizer sagt, Schwarze seien fauler als Weisse, dann ist er rassistisch. Was, wenn ein Kosovare auf dem Pausenhof sagt, Schweizer seien Weicheier?
Dann ist das ebenfalls rassistisch. Aber man sollte über die echten Probleme in diesem Land diskutieren.
Wo sind die Probleme?
Es kann sie auf dem Pausenhof geben, aber dort greift die Anti-Rassismus-Norm nicht, weil das Pöbeleien unter Jugendlichen sind. Einzig der öffentliche systematische Rassismus steht unter Strafe.
Wenn ein Politiker sagen würde: «Juden sind gierig», wäre seine Karriere sofort beendet. Wenn ein Politiker sagt: «Die Deutschen sind arrogant», dann kriegt er von vielen Applaus.
Es geht beim Rassismus vor allem um biologische Merkmale. Wir hatten in Zürich die SVP-Kampagne gegen den «deutschen Filz» an der Universität. Rund 200 Akademiker haben sich dagegen gewehrt und das als rassistisch bezeichnet. Doch eine Staatsbürgerschaft ist nicht gleichzusetzen mit einer Hautfarbe oder einer Religion.
Ob Religion, Hautfarbe oder Nationalität – all dies wird einem in die Wiege gelegt. Wo ist der Unterschied?
Ich möchte mich dieser Diskussion verweigern, weil sie eine nötige Rücksicht auf einer abstrakten Ebene ad absurdum führen will.
Die Anti-Rassismus-Norm ist nicht unumstritten.
Sie wurde in einer Volksabstimmung angenommen. Wo liegt das Problem? Dass man sich in seiner eigenen Meinungsäusserungsfreiheit eingeschränkt fühlt? Es ist doch eine elementare Einsicht, dass die Freiheit des einen dort ihre Grenze hat, wo die Freiheit des andern beginnt. Es leuchtet ein, dass man eine einzelne Person nicht beleidigen darf. Das soll plötzlich nicht mehr gelten, wenn es um ganze Gruppen geht?
Sie waren 16 Jahre lang EKR-Präsident. Was wäre anders ohne diese Kommission?
Wir haben geholfen, die Anti-Rassismus-Norm in der Gesellschaft zu implementieren. Rassismus wird heute nicht mehr als Kavaliersdelikt wahrgenommen.
Welche Kritik an Ihrer Amtsführung hat Sie am meisten verletzt?
Ich musste mich damit abfinden, dass das Eigenbild und das Fremdbild nicht miteinander übereinstimmen. Mir wurde unterstellt, ich würde Rassismusfälle förmlich suchen gehen.
Dieser Eindruck drängte sich in der Tat manchmal auf …
Ich war froh um jeden Tag, an dem ich nichts mit Rassismus zu tun hatte. Ich habe diesen Job nicht gesucht, ich habe ihn aber angenommen. Es waren jeweils die Journalisten, die anriefen, um meine Meinung zu irgendwelchen Vorkommnissen einzuholen, zum Beispiel zu Fasnachtssprüchen. Und sie waren enttäuscht, wenn ich keinen Rassismus feststellen konnte. Ich habe einmal für die unselige «Weltwoche» eine Leserfrage beantwortet: Ob ein Kätzchen «Negerli» heissen dürfe …
Und?
Selbstverständlich darf es das! Es geht doch um existenzielle Probleme, zum Beispiel um die Verweigerung von Arbeit und Wohnung oder um tägliche Leibesvisitationen wegen falscher Hautfarbe. Die ganze Diskussion um «Zigeunerplätzchen» und «Mohrenköpfe» ist ein Witz!
Darf man «Mohrenköpfe» sagen?
Von mir aus schon, sofern man damit nicht jemanden gezielt beleidigt. Mein Ziel ist nicht eine saubere Gesellschaft. Das wäre totalitär. Mein Ziel ist die Prävention, ist eine breite Diskussion. Zum Beispiel indem man mit Discobesitzern und Discogängern über Zutrittsverbote für bestimmte Personengruppen diskutiert. Was ich mir wünsche, ist bloss ein bisschen Empathie.
Nämlich?
Wenn Sie in Gegenwart einer Schwarzen sind und Sie wissen, dass sie sich beleidigt fühlt, wenn Sie von «Negern» sprechen – dann lassen Sie das doch bitte bleiben!
Die «Kosovaren schlitzen Schweizer auf»-Inserate der SVP beurteilten Sie als «zulässig». War das altersmilde?
Ich würde behaupten, dass ich eine ähnliche Einschätzung bereits 1995 gegeben hätte. Für die Frage «zulässig oder nicht zulässig?» bin ich gar nicht zuständig. Darüber müssen Richter entscheiden.
Sie sind moralischer Richter.
Ich will Experte sein. Richter beurteilen Sätze nach juristischen Feinheiten, sie unterscheiden zwischen «Kosovaren schlitzen» und «die Kosovaren schlitzen». Anwälte, die gegen Rassismus kämpfen, wollen nicht, dass ständig geklagt wird. Denn jeder Freispruch wird von bestimmten Leuten so gedeutet, dass die beanstandete Aussage, ein Plakat oder ein Inserat gebilligt wird. Es geht eher darum, mit exemplarischen Fällen Grundsatzurteile herbeizuführen.
Ihre Nachfolgerin an der Spitze der EKR ist die abtretende FDP-Nationalrätin Martine Brunschwig Graf. Sie sagte in einem Interview, Vergleiche mit Ihnen seien «ungeeignet», sie arbeite mit Fakten, Ideologien würden ihr fernliegen. Eine recht unverblümte Kritik an Ihnen.
Das muss ich hinnehmen. Ich will das nicht kommentieren.
Zu Ihren Favoriten für das EKR-Präsidium gehörte dem Vernehmen nach Hanspeter Uster, der ehemalige Zuger Regierungsrat.
Ich habe mit ihm darüber gesprochen – er ist einverstanden, dass ich an dieser Stelle seine Worte wiedergebe: Er sagte, er sei beim Attentat von Zug 2001 physisch angeschossen worden, und seither ertrage er es nicht mehr, im übertragenen Sinn angeschossen zu werden.
Es ging länger als geplant, einen neuen Präsidenten zu finden. Ist das ein Scheissjob?
Soll ich jetzt Ja sagen?
Also, zumindest ein aufreibender Job. In einem Interview sagten Sie einmal, Sie hätten keine Hobbys. Haben Sie überhaupt ein Privatleben?
(Denkt lange nach.) Ja, sicher. Meine Familie gehört zum Privatleben. Und sie schätzt es nicht, wenn sie Telefonanrufe meiner «Rassistenfreunde» entgegennehmen muss.
Sie wurden oft bedroht?
Ich habe die Absicht, mit dem Material, das mir meine «Freunde» geschickt haben, eine kleine Schrift zu publizieren.
Hatten Sie Angst?
Von Zeit zu Zeit, das hing auch ein wenig von der Tagesform ab. Ich musste eine telefonische Fangschaltung installieren lassen und habe mir einmal für einen Auftritt auf dem Bundesplatz eine schusssichere Weste geben lassen. Aber ich rede ungern über diese Dinge, weil ich mich nicht als Märtyrer stilisieren will. Das ist auch der Grund, warum ich Hemmungen habe, das angekündete Büchlein zu schreiben. Es ginge mir nur darum, zu zeigen, wie sich Menschen im Namen der angeblich guten Schweiz auf sehr ungute Art für ihr liebes Land einsetzen. Einer dieser «Freunde» wünschte mir zum Beispiel schriftlich, dass meine Frau von einem Ausländer vergewaltigt würde.
Sie haben Ihre heutige Frau kennen gelernt, nachdem sie in einem Bericht über Single-Frauen im «Magazin» mit Foto abgebildet war und Ihnen offenbar gefiel. Sie schrieben ihr.
Oh ja, das stimmt. Die Frau war mit einem Kind abgebildet, ich habe also an eine Art Multipack geschrieben. (lacht) Wenn Sie auf der Suche nach einer Partnerschaft sind, müssen Sie irgendwo anfangen. Andere stehen einer Frau im Zug auf die Füsse. Aber das hat nichts mit dem zu tun, worüber wir uns hier unterhalten.
Im Frühjahr 2012 erscheint das neue Standardwerk zur Schweizer Geschichte, das Sie herausgeben. Werfen Sie einen neuen Blick auf unser Land?
Es handelt sich um eine aktualisierte Darstellung der Schweizer Geschichte, die dem neusten Stand der Forschung und neuen Sensibilitäten Rechnung trägt – ohne dabei der Tagesmode unterworfen zu sein.
Zum Beispiel?
Im Vorgängerwerk, in der «Neuen Schweizer Geschichte» von 1983, erachtete man die Religiosität als nicht mehr sehr wichtig und betonte die Säkularisierung. Heute steht die Religiosität wieder stärker im Vordergrund. Und natürlich wird es im letzten Kapitel, das ich selbst verfasse, auch um aktuelle Fragen gehen, zum Beispiel um den fehlenden Landschaftsschutz und die miserable Raumplanung.
Lassen Sie uns in einem Geschichtsbuch aus dem Jahr 2100 blättern: Was für eine Kapitelüberschrift würde unsere heutige Zeit tragen?
Ich denke an Begriffe wie gespaltene Gesellschaft, Unübersichtlichkeit – und an eine Zukunft, die heute noch offener erscheint, als sie immer schon war.
Wieso offener?
Ich nehme zum Beispiel an, dass die Zukunft unseres Konkordanzmodells und unseres Verhältnisses zu Europa offener denn je ist.
Endet das Kapitel glücklich?
Das hängt davon ab, was «glücklich» für Sie bedeutet. Eine zentrale Frage wird sein, wie lange die Schweiz als halbautonomes Gebilde weiterexistieren kann, ob sie sich in einen grösseren Bund begeben wird – wie die Kantone dies getan haben, als 1848 der Bundesstaat gegründet wurde.
Sie sehen die Zukunft der Schweiz nach wie vor in der EU?
Ja. Es sei denn, Europa zerfällt. Aber damit rechne ich nicht.
«Die SVP ist zwar systemkonform, pflegt aber nicht bürgerliches, sondern in Teilen rechtsradikales Gedankengut»
«Ich habe mir einmal für einen Auftritt auf dem Bundesplatz eine schusssichere Weste geben lassen»
Geschichtsprofessor und FDP-Mitglied
Georg Kreis, 68, wuchs in Basel auf. Er studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie in Basel, Paris und Cambridge. Bis 2009 war er Professor für Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Basel und leitete bis im letzten Juli das Europainstitut der Universität. Kreis gehörte zur Bergier-Kommission, welche die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg untersuchte. Er ist Mitglied der FDP und präsidiert die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) seit deren Gründung 1995. Ende Jahr tritt er als EKR-Präsident zurück. Kreis ist verheiratet und hat drei Söhne.