20 minuten online vom 20.11.2011
Für den Extremismus-Experten Samuel Althof ist klar: Der Schweizer Nachrichtendienst unterschätzt den Rechtsextremismus in der Schweiz. Eine geheime «Beobachtungsliste» stützt seine Theorie.
Die streng geheime «Beobachtungsliste» des Nachrichtendienstes des Bundes lässt vermuten, dass der Schweizer Staatsschutz auf dem rechten Auge blind ist und die rechtsextremistische Szene nur unzureichend überwacht wird. Die «Liste der zu beobachtenden Organisationen und Gruppierungen 2011», die der «SonntagsZeitung» vorliegt, umfasst insgesamt 23 Organisationen, dem Rechtsextremismus wird jedoch kaum Platz eingeräumt. Die rechte Szene wird in gerade mal 19 Zeilen des über 20-seitigen Dokuments abgehandelt und undifferenziert unter «Skins» subsumiert. So gibt es laut NDB-Vizedirektor Jürg Bühler denn auch keine Bedrohung der inneren Sicherheit der Schweiz durch Rechtsradikale. Die Situation hierzulande könne nicht mit Deutschland verglichen werden, sagte er gegenüber «Der Sonntag»: «Der Rechtsextremismus in Deutschland hat eine andere Qualität, die Mitglieder sind dort viel gewaltbereiter als bei uns.» Ausserdem gebe es einen regen Informationsaustausch mit den entsprechenden Partnerdiensten. Die Kritik von Neonazi-Experten, der Bund spiele die rechte Gefahr in der Schweiz herunter, weist Bühler zurück: «Sicher nicht.» Die Aufgabe des NDB sei die präventive Bekämpfung im Bereich Gewaltextremismus: «Wir versuchen, Gefahren im Voraus zu erkennen, um so Probleme zu verhindern.» Rechtsextreme Ereignisse mit Gewaltbezug zeigten in der internen Statistik «einen rückläufigen Trend», so Bühler. Letztes Jahr wurden 55 rechtsextrem motivierte Ereignisse registriert. Darunter waren 13 mit Gewalttaten, vor allem Schlägereien. Die bisherigen Zahlen für das Jahr 2011 würden diesen Trend bestätigen. Die Kontakte zwischen Neonazis in der Schweiz und Deutschland spielten sich laut Bühler «meist an privaten Anlässen ab, die wir nur von aussen beobachten dürfen».
Experte hat gegenteilige Ansicht
Diesen Aussagen widerspricht Extremismus-Experte Samuel Althof in einer Einschätzung für die Zeitung «Der Sonntag»: «In der rechtsextremen Szene der Schweiz gibt es durchaus Personen, die ein hohes Gewaltpotenzial wie in Deutschland entwickeln könnten.» Althof hat ein Netzwerk zur systematischen Erfassung von Neonazis im Internet aufgebaut und war an Forschungsprojekten zu Rechtsextremismus beteiligt. Seine beunruhigende Analyse: «Mordanschläge, wie sie in Deutschland geschahen, sind auch in der Schweiz denkbar.» Aus unzähligen Gesprächen mit Neo-Nazis und Aussteigern sieht der Basler Psychotherapeut im rechtsextremen Milieu «ein dominanzorientiertes, vereinfachtes und sehr gefährliches Denken, das nur Schwarz-Weiss-Lösungen kennt». Im Gegensatz zu NDB-Vize Jürg Bühler stellt Althof keinen rückläufigen Trend fest: «Die rechtsextreme Szene in der Schweiz ist in den letzten Jahren konstant geblieben.»
Zu körperlichen Angriffen durch Rechtsextreme kam es dieses Jahr in Lausanne VD und in Hinwil ZH. Dabei wurden in der Westschweiz der Assistent eines Rabbiners und im Zürcher Oberland ein Chilbibesucher verletzt, der gegen den Hitlergruss des Schlägers eingriff. Die von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus geführte Chronologie registrierte dieses Jahr bisher 52 Vorfälle mit rechtsextremem Hintergrund. Eine Serie von sieben Todesopfern mit rassistischem Hintergrund gab es in der Schweiz Ende der 80er-Jahre. Rechtsextremismus-Experte Jürg Frischknecht zählt gegenüber dem «Sonntag» Fälle in Chur, Zürich und der Westschweiz auf. Dass 20 Jahre später der Nachrichtendienst die rechte Gefahr runterspielt, bezeichnet Frischknecht als «in der Tradition liegend». So gipfelt die Einschätzung zur Neonazi-Szene Schweiz im NDB-Jahresbericht in Eigenlob: «Der allgemeine Rückgang der rechtsextremen Aktivitäten hierzulande» wird auf eine «direkte und verbesserte Prävention und Repression» zurückgeführt. Insgesamt gelte die Lage in Europa «als relativ ruhig». (tog)