Die Wochenzeitung vom 13.10.2011
Bei den kommenden Parlamentswahlen könnte das rechtsextreme Mouvement Citoyens Genevois in Genf einen Sitz gewinnen. In Vororten wie Meyrin mit prekären Arbeitsbedingungen hetzt es gegen die GrenzgängerInnen. Die Gewerkschaft SIT hält mit einem fahrenden Büro dagegen.
Von Helen Brügger (Text) und Magali Girardin (Foto)
«Abgemacht!» Wir treffen uns am Samstag um neun Uhr auf der «Place des 5 Continents» in Meyrin bei Genf. MarktfahrerInnen richten ihre Stände an diesem kühlen Herbstmorgen ein, die ersten Kundinnen kommen ins Einkaufsparadies am Rand des riesigen Platzes. Sein Name – Platz der fünf Kontinente – ist ein Willkommensgruss an Menschen aller Länder, die im Kanton Genf eine Bleibe gefunden haben. Aus dem Campingcar der branchenübergreifenden Gewerkschaft SIT (Syndicat interprofessionnel de travailleuses et travailleurs) riecht es nach Kaffee. Sekretär Sylvain Tarrit lacht: «Es ist mein erster Kaffee, den ich in einer Espressomaschine und auf einem Gasfeuer zubereite.»
Meyrin, entzweigeschnitten vom Flughafen Cointrin, ist die älteste Satellitenstadt der Schweiz. Heute hat Sylvain Tarrit Bereitschaftsdienst im fahrenden Gewerkschaftsbüro, einem gebrauchten Wohnmobil, das die Gewerkschaft erstanden und gemütlich eingerichtet hat. Hinaus aus den Mauern und hin zu den Menschen und ihren Alltagsproblemen! So lautet die Devise der Gewerkschaft für die kommenden Wochen. Seit einem Monat sind die GewerkschafterInnen dreimal pro Woche unterwegs. Die erste Station ist Meyrin, später wird man das SIT-Mobil auch in anderen «Cités» finden, in den «schwierigen Vororten», den Arbeiterquartieren, wo die Wirtschaftskrise die Menschen hart trifft und wo sich Frust und Empörung breitmachen.
«Grenzgänger raus!»
Entstanden ist die Idee letzten Frühling, nach den Gemeinderatswahlen. In der roten Hochburg Meyrin wählten 29 Prozent der WählerInnen entweder SVP oder das rechtsextreme, populistische Mouvement Citoyens Genevois (MCG). Manuela Cattani, Ko-Generalsekretärin der einst christlichen, heute militant-radikalen interprofessionellen Gewerkschaft SIT, erinnert sich: «Wir haben die Kandidatenliste des MCG und unsere Mitgliederliste überprüft. Es war ein Schock!» Etwa zehn Prozent der MCG-KandidatInnen seien ehemalige Gewerkschaftsmitglieder gewesen. «Wir sagten uns, das kann so nicht weitergehen. Wir müssen uns mit den populistischen Sirenengesängen auseinandersetzen. Wir müssen dort präsent sein, wo die Lügen des MCG auf ein Echo stossen.»
Eben fährt die SVP vor, Männer in rotem Hemd bauen diszipliniert einen Wahlstand auf. Ihre Hemden sind rot, ohne Schweizerkreuz – man hat dem MCG abgeguckt, wie linke Symbole und Werte besetzt und ins Gegenteil verkehrt werden können. Doch für Cattani ist weniger die SVP ein Problem: «Uns macht das MCG Sorgen.» Die SVP sei eine Partei von Schweizern für Schweizer, das MCG hingegen hole bewusst Ausländerinnen und Ausländer in die Partei, «auch Blacks, wie wir hier sagen, Muslime, Leute aus den Cités, die das Vertrauen ihrer Gemeinschaft geniessen». Empört schwenkt Cattani die Broschüre, mit dem die Antigrenzgänger-Partei für die Nationalratswahlen wirbt. «Da, schauen Sie: ‹Die Grenzgänger machen sich über uns lustig!› Oder hier: ‹Unsicherheit, Grenzgänger, Gesindel, Drogen, es reicht!›» Auf sechzehn Seiten breitet das MCG Hass aus und untermalt seine Thesen vom profitierenden «Pack» und «Gesindel» der GrenzgängerInnen: «Lüge!», «Schnauze voll!», «Grenzgänger raus!».
Die Gewerkschaft zählt viele GrenzgängerInnen als Mitglieder. «Manchmal kommen sie weinend zu uns und erzählen, dass sie im Betrieb als Gesindel bezeichnet werden», weiss Cattani. Bei der Überprüfung der Mitgliederlisten habe die Gewerkschaft auch entdeckt, dass zwei Sprecher des MCG noch immer SIT-Mitglieder waren. «Wir haben sie sofort ausgeschlossen», sagt die Gewerkschafterin energisch, «wir wollen glaubwürdig bleiben.»
Ein Flugzeug donnert über den Platz. Ein älterer Mann mit zerfurchten Händen taucht vor dem Bus auf, er wird von Sylvain Tarrit in ein Gespräch verwickelt. Er sei seit Jahrzehnten gewerkschaftlich organisiert. Seit sieben oder acht Jahren habe er keine Lohnerhöhung mehr erhalten. Er habe mitangesehen, wie seine gewerkschaftlich organisierten KollegInnen wegrationalisiert wurden. Für ihn ist klar: «Die Frontaliers sind an allem schuld!» Man solle die doch einfach in Euros bezahlen, dann würden sie weniger in die Schweiz drängen. «Und wer ist der Einzige, der davon profitiert?», gibt Tarrit ruhig zurück. Und fragt den Gewerkschafter, ob er nicht daran gedacht habe, gemeinsam mit andern eine kollektive Lohnerhöhung zu verlangen. Nein, das habe er nicht. Ob sich die Gewerkschaft erkundigen solle, wie es mit den Löhnen in seinem Betrieb stehe? Nein, das wolle er auch nicht.
Weg von Verallgemeinerungen
«Wichtig ist, das Gespräch von den falschen Verallgemeinerungen und der politischen Polemik wegzubringen», erklärt Tarrit. «Der Dialog entsteht, wenn wir das Gespräch auf die individuellen Erfahrungen bringen können.» Ein junger Mann hat unterdessen die Initiative für einen garantierten Mindestlohn unterzeichnet, die vor dem fahrenden Gewerkschaftsbüro aufliegt. Er erweist sich als besorgter Ehemann, seine schwangere Frau ist gerade entlassen worden: «Was soll jetzt aus uns werden?» Zu seinem Erstaunen erfährt er, dass eine Kündigung während der Schwangerschaft gar nicht möglich ist. Dass seine Frau Rechte hat. Dass sie sich wehren kann. Er nimmt gleich zwei Beitrittsformulare mit und kündigt an, dass er sich am nächsten Montag bei der Gewerkschaft melden wird.
«Schauen Sie dort drüben, die Läden im Einkaufsparadies!», sagt Cattani. «Seit wir hier sind, haben wir so einiges erfahren, was hinter den glänzenden Fassaden vorgeht. Nach Feierabend kommen Verkäuferinnen über den Platz zu uns, verstohlen, damit man sie nicht sieht: ‹Gut, dass Sie noch hier sind!›, und setzen sich für einen Moment im Bus hin.» Das sei die Grundidee des Wohnmobils: «Wir senken die Hemmschwelle für Menschen, die sonst nie den Fuss in ein Gewerkschaftsbüro setzen würden.»
Vom sechsten Kontinent
Ein schüchternes Paar nähert sich dem Wohnmobil und hört eine Weile der Diskussion zu. Die beiden kommen von jenem sechsten Kontinent, der bei der Namensgebung für den Platz der fünf Kontinente nicht vorgesehen war: Sie sind papierlos. Er hat Sorgen, weil er vorher im Kanton Waadt gearbeitet hat und nicht recht weiss, wie die ungeschriebenen Gesetze für Sans-Papiers im Kanton Genf lauten. Die beiden steigen in den Camper, dort fühlen sie sich sichtlich wohler, geschützt. Auch die junge Frau taut auf. Sie hat zwar keine Papiere, aber eine AHV-Karte – wie viele Sans-Papiers bezahlen die beiden seit Jahren ihre Sozialabgaben. Doch jetzt hat sie beim Kopieren alle Belege für ihre Putzfrauenarbeit liegen lassen. Nie hätte sie gedacht, dass jemand sich ihrer annimmt, ihre AHV-Nummer notiert und bei den Arbeitgebern nachzuforschen verspricht. Sylvain Tarrit tut es, die Gewerkschaft hat in Genf viel dazu beigetragen, dass die Sans-Papiers aus dem Schatten traten. Strahlend verlassen die beiden den Wohnwagen.
«Neben arbeitsrechtlichen Fragen und der Grenzgängerproblematik ist die Schwarzarbeit ein häufig angesprochenes Thema im Bus», fasst Tarrit seine bisherigen Gesprächserfahrungen zusammen. «Man sagt uns, ihr müsst die Schwarzarbeiter anzeigen! – Wir sagen, Achtung, wer ist schuld, wer profitiert!? Wir sind keine Flics, wir arbeiten nicht mit der Polizei zusammen. Wir sorgen nur dafür, dass die Sozialabgaben bezahlt werden.» Noch sei es zu früh für eine Bilanz: «Wir werden sie am Ende unserer Reise ziehen. Ort für Ort, das wird uns künftig helfen, den Lügen des MCG entgegenzutreten.» Und Manuela Cattani fügt hinzu: «Unser Ziel ist, dass die Herzen der Menschen wieder links schlagen.»