Der Sonntag / MLZ vom 31.07.2011
Filmemacher Daniel Schweizer über den Feind im Inneren, der die Demokratie zerstören will
Florence Vuichard
Acht Jahre lang hat der Regisseur Daniel Schweizer die rechtsextreme Szene filmisch begleitet – und ihre Netzwerke durchleuchtet. Jetzt erkennt er im Attentäter von Norwegen das in dieser Szene gängige Konzept des einsamen Wolfs.
Herr Schweizer, Sie sind ein intimer Kenner der rechtsextremen Szene. Hätten Sie den Anschlag von Norwegen vorher für möglich gehalten?
Daniel Schweizer: Es überrascht mich nicht, dass ein Mann wie Anders Behring Breivik zur Tat geschritten ist. Seit vielen Jahren werden in der rechtsextremen Szene immer radikalere Ansichten geäussert. Dieser Mann ist schlicht von den Worten zu den Taten übergegangen. Er ist der Logik seines Hasses auf die Gesellschaft gefolgt und den Weg zu Ende gegangen. Hunderte von Jungen in den verschiedensten Ländern Europas teilen seine Ansichten über einen unvermeidbaren Rassenkonflikt.
Aber wieso in Norwegen? Die rechtsextreme Szene in Schweden ist doch viel präsenter.
Die rechtsextreme Szene hat sich in ganz Skandinavien entwickelt. Man redet oft von Schweden, weil dort die Gesetze lockerer und Treffen von Neo-Nazis nicht verboten sind. In Norwegen und Finnland ist die Szene nur weniger sichtbar. Aber in meinem Dokumentarfilm «Skinhead Attitude» war der schärfste Neo-Nazi ein Norweger. Er sagte in die Kamera, dass er die Demokratie hasse und sie zerstören wolle.
Viele Medien und auch einige Politiker zeichnen von Breivik das Bild eines kranken, irren Menschen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Breivik ist kein kranker Mensch. Er ist ein rechter Terrorist, er agiert rational und ist gut organisiert. Man darf den politischen und rassistischen Charakter seiner Tat nicht unterschlagen. Es ist eine politische, durchdachte, lang vorbereitete Tat, flankiert mit einem Manifest von gut 1500 Seiten. Breivik richtet sich darin an die «europäischen Patrioten» und reiht sich ein in den ideologischen Kampf gegen Demokratie und Multikulturalismus. Auch in der Wahl seiner Ziele ist er sehr klar.
Inwiefern?
Zum einen eliminierte er auf der Insel Utöya die Jungen, welche die neue Generation der sozialistischen Partei repräsentieren. Zum anderen zielte er in Oslo auf das Symbol der Regierung und der Demokratie, die verantwortlich sind für die multikulturelle Gesellschaft. Breivik stellt sich als politischen Kämpfer und Märtyrer dar, der mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes die Gesellschaft zerstören will, die er hasst. Darin reiht er sich ein in die «Theorien» von vielen rechtsextremen Splittergruppen, die vom unvermeidbaren Rassenkrieg reden oder, wie in den USA, vom «Racial Holy War». Breivik verbreitet Thesen zum Kulturkampf und Anti-Islamismus, er hat eine paranoide Sicht auf die Welt und wittert Verschwörungen, was man bei Rechtsextremen immer wieder findet. Er sieht sich als Krieger, der für die Rettung Europas vor der Islamisierung den Glauben in den demokratischen Kampf verloren hat. Auch das ist ein gängiges Muster bei vielen rechtsextremen Aktivisten.
Breivik hat offenbar allein gehandelt.
Er ist ein typisches Beispiel für das Konzept des «Lone Wolf», des einsamen Wolfes. Der «einsame Wolf» agiert alleine oder mit so wenig Hilfe von anderen wie möglich, um nicht entdeckt zu werden und die Erfolgschancen seines Vorhabens zu erhöhen. Er gibt sich eine «politisch korrekte» Erscheinung, dann tritt er einen progressiven Desozialisierungsprozess an, um Abstand zu schaffen zu seinen Freunden, und führt ein Doppelleben. Dasselbe Vorgehen finden wir auch bei Timothy McVeigh, bei dessen Attentat 1995 es in Oklahoma City 168 Tote gab. Auch McVeigh benutzte übrigens Ammoniumnitrat, auch sein Anschlag richtete sich gegen ein Regierungsgebäude. Die Theorie des «Lone Wolf» stammt aus den USA und wurde in Europa durch das Buch «Tuner Diaries» von William Pierce verbreitet. Es ist heute so etwas wie die Bibel des Neo-Nazi-Terrorismus.
Nehmen die westlichen Gesellschaften die Gefahr nicht ernst genug, die vom Rechtsextremismus ausgeht?
Unsere Gesellschaft kann sich offenbar nur schwer vorstellen, dass junge Menschen sich vom Rechtsextremismus und von dem Kampf gegen die Demokratie begeistern lassen. Man stellt sich lieber vor, der Feind sei der andere, der Fremde, der Ausländer. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen: In Europa und den USA gibt es rechte Aktivisten, die sich zu Terrorismus und Gewalt hingezogen fühlen. Es ist zwar eine Minderheit, eine Randgruppe, aber sie ist durchaus real. Es gibt einen Feind im Inneren, der die westliche Demokratie zerstören will.
Haben die Geheimdienste im Westen die rechtsextreme Szene unterschätzt?
Bei jedem Terroranschlag von Rechtsextremen gibt es eine Tendenz zur Verneinung und Verdrängung. Diese besteht darin, von singulären Taten und von kranken Tätern zu sprechen, statt dass man die Netzwerke und Verbindungen zu den politischen Gruppierungen untersuchen würde. Diese Aspekte wurden nach dem Anschlag in Oklahoma genauso vernachlässigt wie nach dem Mordanschlag gegen den französischen Präsidenten Jacques Chirac durch Maxime Brunerie im Jahr 2002.
Tragen rechte politische Parteien wie die SVP mit ihren Parolen Mitschuld an Taten wie der von Breivik?
Die islamfeindlichen Parolen gehören zum Alltag und liefern eine Legitimation für die extreme Rechte. Die Parteien wie der Front National in Frankreich oder die SVP in der Schweiz spielen mit der Angst vor dem Islam und der Islamisierung unserer Gesellschaft und vor möglichen Bürgerkriegen – und bereiten damit das Terrain für verzweifelte Extremisten wie Breivik vor.
Wie gefährlich ist die rechtsextreme Szene in der Schweiz?
Sie ist noch immer sehr aktiv und hat sich in den letzten Jahren sogar noch entwickelt. Sie operiert teilweise klandestin und vermeidet es, in den Medien vorzukommen. Dennoch finden regelmässig Treffen statt. Zudem haben die Schweizer Gruppierungen gute Kontakte mit Gleichgesinnten im Ausland. Via Internet pflegen sie in einschlägigen Foren ihre internationalen Kontakte.
Das Netz erhält eine zentrale Bedeutung. Wie dicht ist mittlerweile das internationale rechtsextreme Netzwerk?
Auch wenn es keine einheitliche Ideologie zwischen den verschiedenen rechtsextremen Gruppen gibt, so knüpfen diese im Internet doch zahlreiche Kontakte. Es gibt Tausende rechtsextremer Seiten, und diese erlauben es, die Propaganda weltweit zu verbreiten. «Stormfront» zum Beispiel ist eine rechtsextreme Internetgemeinschaft, welche die Neonazi-Ideologie verbreitet. Die Erben Hitlers sind zahlreich im Netz. Die Schweizer haben direkte Kontakte mit den Amerikanern, den Skandinaviern, den Deutschen oder den Russen. In den letzten Jahren kam es zu einer Internationalisierung und Globalisierung der rechtsextremen Szene.
Hatten Sie persönlich eigentlich nie Angst, in dieser Szene Filme zu drehen?
In der Tat: Die acht Jahre, in denen ich meine drei Filme über die Skinheads, die Neo-Nazis und die Anhänger des «White Power» gedreht habe, waren erdrückend. Aber diese Filme mussten gemacht werden, um zu verstehen, was sich da in diesem Segment unserer Gesellschaft abspielt. Die Arbeit eines Filmemachers besteht darin, dort hinzuschauen, wo niemand hinschaut. Während der Dreharbeiten wurden wir manchmal bedroht, aber wir mussten diese Filme machen, damit letztlich niemand sagen kann: Wir haben es nicht gewusst. Drohungen gab es auch in «White Terror», neue Bedrohungen sind in Zukunft nicht auszuschliessen, denn diese Extremisten wähnen sich im Krieg gegen unsere Gesellschaft und sprechen sogar von einem «White Djihad».