Die Wochenzeitung vom 21.04.2011
Genfs Protestpartei
Das rechtsextreme Mouvement Citoyens Genevois geht mit schillernden Parolen, falschen Versprechungen und Verschwörungstheorien auf Stimmenfang.
Von Helen Brügger
Onex, die Arbeitervorstadt Genfs, zählt seit Mitte März über 27 Prozent WählerInnen des Mouvement Citoyens Genevois (MCG). Am letzten Wochenende hat die Bewegung es geschafft, ihren Anführer Eric Stauffer in die Gemeinderegierung wählen zu lassen.
René Longet hat es kommen sehen. Der Präsident der kantonalen SP ist Mitglied der Stadtregierung von Onex. «Das MCG spricht Leute an, die nicht im Gemeindeleben integriert sind und sich als Opfer der Gesellschaft empfinden», erklärt er. Ein Beispiel? «Ein gestohlenes Velo und ein Polizist, der erklärt, man könne sich nicht um alle gestohlenen Velos kümmern, und schon wählt der frustrierte Velobesitzer MCG.»
Ein anderes Beispiel? «Eric Stauffer hat einem Maurer persönlich versprochen, er werde bei der Gemeinde angestellt, falls Stauffer gewählt werde.» Darauf habe Longet dem Maurer erklärt, das sei ohne öffentliche Ausschreibung gar nicht möglich. Die Antwort des Maurers, der Stauffer seine Stimme versprochen habe: «Ihr Politiker seid sowieso alle Lügner!» Das MCG schaffe es, bei sozial Deklassierten den Eindruck zu erwecken, es stehe auf ihrer Seite: «Gleichzeitig mehr Sozialleistungen und weniger Steuern zu verlangen, ist dabei für die Partei kein Problem.» Laut Longet rekrutiert das MCG bei Menschen, «die anfällig für Komplotttheorien sind und generell allen Eliten misstrauen». Das MCG blase überall ins Feuer, wo es Glut finde.
Chronisch verstopft
Sozialen Zunder gibt es in Onex nicht viel mehr als anderswo: Arbeitslosenquote und AusländerInnenanteil bewegen sich im kantonalen Mittel. Für das Malaise, von dem das MCG profitiert, gibt es vor allem kantonale Gründe. Der Zuzug von ausländischen Unternehmen lässt die Wirtschaft boomen, doch die einheimischen Arbeitslosen haben nichts davon, weil die Firmen ihr Personal mitbringen. Dieselben Firmen sind bereit, ihren Angestellten einen Teil der überrissenen Mietkosten zu bezahlen, was die Mieten noch mehr in die Höhe treibt; eine einfache Vierzimmerwohnung für 4000 Franken ist in Genf keine Seltenheit.
50 000 Personen kommen jedes Jahr nach Genf, ebenso viele verlassen die Stadt wieder, unter anderem wegen der akuten Wohnungsnot. Die Wirtschaft kann ohne Grenzgänger Innen («frontaliers») nicht existieren, doch die Politik hat erst mit Jahrzehnten Verspätung gemerkt, dass Genf nur als Zentrum einer grenzüberschreitenden Agglomeration überleben kann. In der Verkehrspolitik sind entscheidende Jahre verschlafen worden, Genf leidet unter einem Dauerverkehrschaos. Der Versuch, in aller Eile neue Tram- und Buslinien zu erstellen, verstärkt die chronische Verstopfung der Stadt weiter.
Die Frontaliers. Das MCG hat sie als Sündenbock ausgewählt. Stauffer stellt dem «französischen Gesindel» in Aussicht, das MCG werde es «im Sarg zurückschaffen». Die GrenzgängerInnen sind an allem schuld: an der Arbeitslosigkeit, an den verstopften Strassen, sogar, weiss der Teufel wie, an der Wohnungsnot … Fakten zählen nicht, subjektives Empfinden ist alles: «Die MCG-Kurve folgt nicht der Kurve des sozialen Ausschlusses, sondern der Kurve des Gefühls von sozialem Ausschluss», sagt Longet. Die Bewegung sei auch in ausländischen Gemeinschaften verankert. «Im Unterschied zur SVP, die mit ausländerfeindlichen Parolen Stimmen macht, tritt das MCG nicht gegen die ansässige ausländische Bevölkerung auf. Kein Wunder, machen sie doch in Genf rund vierzig Prozent aus. Also geht es auf die Grenzgänger los.»
Longet sieht einen weiteren Unterschied zur SVP: «Die SVP steht für Ruhe und Ordnung. Beim MCG gehört das Überschreiten von Gesetzen zur politischen Provokation.» Stauffer pflege bewusst das Image des süditalienischen Banditen. «Beim MCG liebt man dicke Autos, starke Motorräder und exotische Frauen.» Und Raufereien, selbst in der Cafeteria des Kantonsparlaments: Dort nannte ein Abgeordneter der Grünen zu später Stunde Eric Stauffer einmal «Stauführer». Das hätte er nicht tun sollen. Er landete im Kantonsspital.
«Die Regierung rollt den roten Teppich für Multis, Trader und Finanzdienstleister aus, während die lokale Industrie abstirbt», sagt Alessandro Pelizzari, Regionalsekretär der Gewerkschaft Unia. «Ja, es gibt Arbeitslosigkeit, ja, es gibt Lohndumping, doch daran sind nicht die Grenzgänger schuld, sondern die Politiker und die Unternehmer.» Bis in die gewerkschaftlich organisierten Personalvertretungen fände das MCG Gehör, hat die Unia festgestellt. Vor einem Jahr ist sie in die Gegenoffensive gegangen und seither zweimal wöchentlich in den Arbeiterquartieren präsent. Im Gespräch mit der Bevölkerung versuchen die GewerkschafterInnen der Rhetorik des MCG entgegenzutreten und zu erklären, dass beispielsweise die Frontaliers in der Krise als Erste die Arbeit verloren haben und dass kaum einheimische Arbeitskräfte durch GrenzgängerInnen ersetzt worden sind. «Überall, wo wir hinkommen, heisst es: ‹Wir sind nicht mit allem einverstanden, was das MCG sagt, aber das MCG hört uns wenigstens zu›», bilanziert Pelizzari.
Der Politunternehmer
Mit einem «Manifest für eine andere kantonale Arbeitslosenpolitik» antwortet die Gewerkschaft nun auf die wirklichen Sorgen der Lohnabhängigen. Sie fordert kantonale Unterstützungsmassnahmen für ausgesteuerte Arbeitslose und eine nachhaltige Reindustrialisierung des Kantons: «Sonst verkommt Genf zur blossen Drehscheibe für Erdöl und Finanzkapital!» Mit einem ähnlichen Forderungskatalog will die Unia demnächst gegen das Lohndumping antreten: «Wir brauchen mehr Arbeitsinspektoren auf dem Genfer Arbeitsmarkt», ist Pelizzari überzeugt.
«Eric Stauffer? Er war zuerst bei den Liberalen, dann bei der SVP, dann hat er das MCG gegründet, weil er bei der SVP keinen aussichtsreichen Listenplatz für die Wahlen erhalten hat», sagt Philippe Gottraux, Politologe an der Universität Lausanne und Mitautor einer Nationalfondsstudie zur Frage, aus welchen Gründen jemand der SVP beitritt. Stauffer sei ein «Politunternehmer», der sein Angebot den Bedürfnissen seiner Karriere angepasst habe: MCG und SVP teilten das rechte Protestpotenzial unter sich auf, wobei das Mouvement die «soziale» Fraktion übernommen habe. «Auch wenn sich SVP und MCG in ihrer Haltung zum Wirtschaftsliberalismus unterschieden, machen beide mit Sündenböcken Politik.» Die in Deutschschweizer Medien verbreitete Bezeichnung des MCG als «sozial-populistisch» findet der Politologe falsch. «In sozialen Fragen schwankt das MCG zwischen sozialer Rhetorik und neoliberaler Praxis. Und der Begriff ‹populistisch› lässt zu Unrecht vermuten, dass die Bewegung die Interessen des Volkes wahrnimmt oder den Bedürfnissen des Volkes entspricht.»
«Marginales Grüppchen»
Hat das MCG, das gemäss Gottraux klar auf der extremen Rechten des politischen Feldes agiert, eine gesamtschweizerische Zukunft? Das MCG selbst prahlt, es werde bei den Natio nalratswahlen zwei Sitze in Genf und einen in Lausanne machen. Es möchte mit der Tessiner Lega zusammenspannen – sogar die Schweizer Demokraten, die Partei, die gegen «Überfremdung» und «Übervölkerung» auftritt, könnten mit dabei sein, wenn es um die Bildung einer Nationalratsfraktion geht.
Doch Gottraux verweist auf die bisher allesamt gescheiterten Versuche, ein Mouvement Citoyen in anderen Kantonen der Westschweiz zu verankern. Im Kanton Waadt etwa seien sie «nicht mehr als ein marginales Grüppchen» und bei den Gemeindewahlen im März nirgendwo gewählt worden. «Die politische Ausgangslage im Kanton Waadt ist vielfältiger als im Kanton Genf; sie haben es nicht einmal in Gebieten mit vielen Grenzgängern geschafft, sich Gehör zu verschaffen.» Auch René Longet denkt nicht, dass die Rezepte des MCG ausserhalb des Kantons Genf Erfolg haben. Ausser im Tessin. Die Gemeinsamkeiten von MCG und Lega sind offensichtlich, beide Parteien treten mit einem ähnlich aggressiv-konfusen Politmix auf. «Lega und MCG sind die SVP der wirtschaftlich verunsicherten Grenzkantone», bringt es Longet auf den Punkt. Die Lega hat aber bisher die Avancen des MCG ausgeschlagen. Sie zieht eine Partnerschaft mit der SVP vor.
Ein politisches Rezept, wie das MCG und ähnliche Bewegungen zu bekämpfen wären, kennt übrigens auch der Politologe Philippe Gottraux nicht: «Sie zu isolieren, nützt ihnen ebenso, wie sie einzubinden. Im ersten Fall gibt man ihnen Argumente gegen die sogenannten ‹Eliten›, im zweiten Fall werden sie verharm lost.»
Das MCG
Das Mouvement Citoyens Genevois wurde im Juni 2005 von den zwei SVP-Dissidenten Georges Letellier und Eric Stauffer gegründet und erhielt bei den Grossratswahlen vom Oktober 2005 7,7 Prozent der Stimmen. Vier Jahre später wurde es mit 14,7 Prozent zur drittgrössten Partei im Kantonsparlament.
Bei den Gemeindewahlen vom März 2011 erhielt das MCG in der Stadt Genf 13,1 Prozent der Stimmen. Damit beendete sie die seit 24 Jahren bestehende Mehrheit der Linken im städtischen Gemeindeparlament.
Bei den Wahlen in die Gemeinde exekutiven vom letzten Wochenende enttäuschte das MCG allerdings. Zwar schaffte es Eric Stauffer in die Exekutive von Onex, gleichzeitig wurde aber das bisher erste und einzige Mitglied einer Gemeindeexekutive, Thierry Cerutti, aus der Regierung des Arbeitervororts Vernier abgewählt. In der Stadt Genf selbst landeten die MCG-Kandidaten am Schluss der Liste und vermochten die Zusammensetzung der linken Stadtregierung (2 SP, 1 Solidarités, 1 Grüne, 1 FDP) nicht zu verändern.