Migros-Magazin vom 11.10.2010
Die steigende Anzahl an Strafanzeigen, immer mehr Menschen, die Zivilcourage beweisen, und Kampagnen wie «Fertig Puff!» zeigen: Die Schweiz hat genug von gewalttätigen Jugendlichen. Das macht auch den Opfern Mut.
Yvette Hettinger
Jeder fünfte Täter ist jünger als 15
Die Zahlen sind erschreckend: Im Jahr 2009 sind fast doppelt so viele Jugendliche für Gewaltdelikte verurteilt worden wie zehn Jahre zuvor (siehe unten). Diese Zahlen könnten noch steigen, wie Daniel Fink (58), Sektionschef beim Bundesamt für Statistik, sagt. Er räumt ein: «Die Statistik zeigt die Urteile. Vermutlich ist vor allem die Anzeigebereitschaft gestiegen.» Auch Allan Guggenbühl (siehe Interview Seite 14), denkt, dass die Zunahme der Verurteilungen vor allem die Sensibilität der Gesellschaft spiegelt. Die Delikte seien seit Jahrzehnten konstant. Die Zunahme ist bei denjenigen Ereignissen besonders gross, aus denen keine Schwerverletzte resultieren. Und Reintegrationsprogramme zeigten Wirkung: Die Mehrheit der Ver- urteilten wird danach innerhalb von drei Jahren nicht wieder straffällig.
Aufhorchen lässt, dass jeder fünfte der gewalttätigen Jugendlichen noch nicht mal 15 Jahre alt ist – und dass jährlich immer noch 20 schwerverletzte Opfer von Jugendgewalt zu beklagen sind.
Simon Akermann (20)
Friedlicher Abend endet für Simon mit Darmriss und Hirnverletzung
Vor gut einem Jahr wurde Simon Akermann ein rund vier mal fünfzehn Zentimeter grosses Kunststoffstück in die Schädeldecke eingefügt. Es war dies die elfte Operation, seit er im September 2007 am Ufer des Zürichsees spitalreif geschlagen worden war. «Ich habe nur winzige Erinnerungsfetzen an den Überfall», sagt der junge Mann, zuckt wie entschuldigend die Achseln und lächelt.
Er und sieben Kollegen aus seiner Gymiklasse werden an dem Sommerabend von einer Gruppe Jugendlicher angegriffen. Einer der Angreifer tritt Simon erst in die Magengrube, dann zieht er ihm eine Flasche über den Kopf. Im Spital stellt man eine Hirnverletzung und einen gerissenen Dünndarm fest. Die Ärzte öffnen die Schädeldecke, damit das angeschwollene Hirn keinen Schaden nimmt. Akermann schwebt in Lebensgefahr.
Im Gegensatz zu ihrem Sohn erinnern sich seine Eltern sehr gut an jene Nacht: «Morgens um halb zwei rief die Polizei an», erzählt die Mutter. Erst am nächsten Morgen konnten sie und ihr Mann ihren Sohn sehen, er lag im Koma. Die Ärzte sprachen von einer 50-prozentigen Überlebenschance und erklärten, dass der Junge mindestens motorische Schäden davontragen würde. Oliver, Simons zwei Jahre älterer Bruder, sagte: «Simi schafft das, der ist hart im Nehmen.»
Nach zwei Wochen und sechs Operationen holte man den Jugendlichen aus dem Koma. Er hatte 15 Kilo abgenommen und musste monatelang einen Helm tragen, um den offenen Schädel zu schützen. «In dieser Zeit hatte ich dauernd Angst, es würde mir etwas auf den Kopf fallen», sagt Akermann, «aber mit dem Verstand habe ich die Angst besiegt.» Sein Zustand verbesserte sich langsam, mit Hilfe seiner Schule kämpfte er sich zurück in seine Klasse und bestand im Sommer 2009 sogar die Matur.
Der Täter empfindet seine Strafe als gemütlich
Heute, sagt Akermann, lebe er wieder ein normales Leben ohne Beschwerden. «Ich gehe wieder aus wie früher und meide Streit wie früher.» Die Ärzte sprechen von einem medizinischen Wunder. Weniger zufrieden ist die Familie damit, wie es dem Täter erging. Die Richter hätten sich bei der Gerichtsverhandlung im Frühling 2009 die Aufgabe nicht leicht gemacht. Dass aber der Täter – inzwischen 19-jährig – im halboffenen Vollzug sitzt und dies nach eigenen Aussagen gemütlich findet, stösst ihnen bitter auf. Dennoch: Nur echte Einsicht würde helfen, finden die Eltern, härtere Strafen nützten nichts. Simon denkt nur noch selten zurück. Bis heute ist es ihm ein Rätsel, wieso er und seine Freunde attackiert wurden. Einzige nachhaltige Folge der Gewalttat: Seit Akermann sich so intensiv mit medizinischen Fragen auseinandersetzen musste, fasziniert ihn Medizin. Nächstes Jahr möchte er ein Medizinstudium beginnen.
Nadine Gantenbein (27)*
Das Opfer bezahlte 10 000, die Angreiferinnen nur 200 Franken
Insgesamt 200 Franken Verfahrenskosten bekamen die drei Mädchen aufgebrummt, die vor sieben Jahren Nadine Gantenbein im Oerliker Nachtclub Oxa zusammengeschlagen haben. «Lächerlich, dieser Betrag!», sagt Gantenbein. «Vermutlich hat sogar die Staatskasse am Ende die Kosten übernommen, weil die Mädchen kein Geld hatten.» Auch eine versprochene Entschädigung von 400 Franken habe sie nie bekommen.
Die junge Frau möchte nicht namentlich genannt werden, weil sie einen Racheakt der Täterinnen fürchtet. Sie überschlägt kurz im Kopf die Beträge, die sie wegen des Überfalls aus der eigenen Tasche berappen musste. Es sind bisher gut 10 000 Franken. «Darüber hinaus», sagt Gantenbein, «hat die Krankenkasse Tausende von Franken für mich ausgegeben.» Seit der Fall vor sechseinhalb Jahren abgeschlossen wurde, ist damit Schluss. «Alle Nachfolgekosten, die jetzt noch kommen, gehen auf meine Rechnung», sagt Nadine Gantenbein. Sie hat oft Kopfschmerzen und muss regelmässig in die Physiotherapie. Ihr Unterkiefer ist seit sieben Jahren verschoben.
Alles ging damals sehr schnell: «Eine Freundin und ich standen in der Disco Oxa vor der Toilette Schlange, da drängten sich drei Mädchen an uns vorbei.» Man kannte sich vom Sehen. «Wir sagten den dreien, sie sollen sich hinten anstellen.» Sekunden später lag sie bewusstlos am Boden. Eines der Mädchen hatte sie gestossen. «Ich war mit dem Kopf an einen Heizkörper geprallt», sagt sie. Eine der Angreiferinnen trat nochmals auf ihren Kopf ein – daher die Kieferverletzung. Eine Woche später waren die Täterinnen bereits wieder im Oxa. Nathalie sah sie auf einer Internetseite mit Bildern von Partyvolk.
«Es standen viele Leute da, aber sie starrten nur»
«Ich gehe längst wieder unbelastet aus», sagt Gantenbein, aber mein Kiefer wird wohl nie wieder heil werden», sagt sie. Solche Ereignisse müssten publik werden. «Mein Vater hat mich und meine Brüder zu Gewaltlosigkeit erzogen.» Es falle ihr schwer zu akzeptieren, dass die Täterinnen so ungeschoren davon kamen. «Es sind Migrantentöchter», fügt sie an.
Oft seien Ausländer die Täter, betont ihr Vater. Er hat monatelang Zeitungsartikel über Gewalttaten und Raserunfälle gesammelt und Staatsangehörigkeiten notiert. Seine ganz persönliche Statistik: 81 Prozent der Fälle sollen auf das Konto von Ausländern gehen. Seiner Tochter gibt vor allem zu denken, dass ihr im Oxa niemand geholfen habe: «Es standen viele Leute da, aber sie starrten nur.» *Name zum Schutz der Porträtierten geändert
Dominik Bein (22)
Langsam kann sich Dominik wieder selber rasieren und anziehen
Nichts habe sie gefühlt, sagt Rosmarie Bein (55), nichts ausser Entsetzen, als sie im April 2003 gegen Abend einen Anruf bekam und erfuhr, dass ihr 15-jähriger Sohn Dominik im Spital liege. Er sei in eine Schlägerei geraten und schwer verletzt. Der erste Gedanke der Mutter: «Das kann nicht sein.» Dominik liebe Reggae, sei immer ein friedlicher Mensch gewesen.
Der 22-Jährige nickt und lacht. Er möchte etwas sagen – kann sich aber nicht artikulieren. Heute ist für Dominik kein guter Tag zum Sprechen, aber er lächelt oft. Seine Mutter übersetzt, «Ja, Peace», und erklärt: Ihr Sohn habe eine sogenannte Aphasie. Das heisst, dass seit der Gewalttat das Sprachzentrum in seinem Hirn geschädigt ist.
Die Jamaika-Mütze, die er trug, um in Frauenfeld TG an ein Konzert zu gehen, genügte, um eine Gruppe von 18- bis 23-jährigen Rechtsextremen zu provozieren. Sie schlugen Dominik fast tot. «Gewissen jungen Leuten geht alles auf die Nerven», sagt Rosmarie Bein, mehr erstaunt als wütend, «sie schlagen sofort zu.»
Die Grund- und Sinnlosigkeit der Tat beschäftigt sie bis heute. Und dass ihr Sohn auch mit 22 Jahren kein normales, selbständiges Leben führen kann. «Seine Kollegen haben Jobs, Freundinnen oder sogar Kinder», sagt sie. Für ihn sei es schon ein Fortschritt, dass er in der Lage sei, sich selber zu rasieren und anzuziehen. «Danach ist er erschöpft.» Ausserdem könne er inzwischen allein einkaufen gehen. Für alles braucht er aber sehr lange. Konzentration und Kurzzeitgedächtnis seien immer noch schlecht, sagt die Mutter.
Die rechtsextremen Täter entschuldigten sich nie
Dominik Bein hat kein rechtes Stirnhirn mehr. Andere Hirnregionen werden die Aufgaben des fehlenden Organteils übernehmen. Aber das braucht Zeit. Bein ist nicht geistig behindert, er versteht, was um ihn herum gesprochen wird. «Jede Woche geht er in die Physiotherapie und in die Logopädie», sagt seine Mutter. Dominik schüttelt heftig den Kopf und sagt laut «Nein!» In der Logopädie habe er gerade ein Motivationstief, erklärt seine Mutter und lächelt ihren Sohn etwas traurig an. «Eine aufrichtige Entschuldigung der Täter wäre ein kleiner Trost», sagt sie. Das habe es nie gegeben.
Dann schwärmt sie von der neuen Wohnung in Rickenbach TG, in die sie eben eingezogen sind. Sie ist grösser als die alte, hat einen Lift und eine ebenerdige Dusche. «Besser», sagt Dominik Bein.
Weiterhin wird Rosmarie Bein aber jeden Morgen um vier Uhr aufstehen und bis zum Mittag arbeiten, damit sie sich für den Rest des Tages um ihren Sohn kümmern kann. Einst wollte Dominik Bein Krankenpfleger werden. Ein Praktikum hatte er schon gemacht. Heute ist er selbst ein Pflegefall.
Doppelt so viele Gewaltdelikte wie 1999
1999 wurden acht Jugendliche, zehn Jahre später 20 wegen schwerer Körperverletzung verurteilt — die Opfer waren zum Beispiel lebensgefährlich verletzt. Als einfache Körperverletzung gelten etwa blutende Wunden und eingeschlagene Zähne, bei Tätlichkeiten trägt das Opfer Schürfungen oder Kratzer davon. Bei Raufhandel sind mindestens drei Personen in eine Schlägerei involviert. Angriffe sind einseitige Attacken von mindestens zwei Personen. Die Polizeistatistik 2009 zeigt, dass mehr als ein Drittel aller wegen Gewalttaten Beschuldigten unter 24 Jahre alt ist. Nicht im Detail: Erpressung, Drohung und Nötigung, Freiheitsberaubung und Gewalt gegen Beamte.