Willkommen im harten Europa

Basler Zeitung vom 25.09.2010

Belgien, Holland, Schweden: Was bedeutet der Vormarsch der Anti-Immigrations-Parteien?

Markus Somm

Am vergangenen Wochenende gewann in Schweden eine rechte Partei auf Anhieb 5,7 Prozent. Die Schwedendemokraten, wie sie sich nennen, wenden sich vor allem gegen weitere Einwanderer, sie gelten als Rechtspopulisten, zum Teil begannen führende Leute der Partei ihre politische Karriere in rechtsextremen Kreisen. Dies hatten die schwedischen Medien aufgedeckt, nicht zuletzt wohl in der Hoffnung, damit möglichst viele Wähler davon abzuhalten, die Fremdenfeinde zu unterstützen. Es half nichts. Den Schwedendemokraten glückte die Sensation. Diese mutet umso historischer an, als gleichzeitig die sozialdemokratische Arbeiterpartei ihr schlechtestes Ergebnis seit 1914 zu erdulden hatte. Die mächtige SP, eine der erfolgreichsten linken Parteien des Westens, eine stolze und fähige Kraft, die seit 1932 bis vor wenigen Jahren Schweden nach Belieben dominiert und in dieser Zeit den vielbewunderten schwedischen Wohlfahrtsstaat aufgebaut hatte: Sie wurde zurechtgestutzt zu einer normalen mittelgrossen Partei.

Ende einer Epoche

Am Freitag wurde überdies bekannt, dass die bürgerliche Allianz, die die Wahlen für sich entschieden hatte, trotzdem auf keine Mehrheit gekommen ist: Premierminister Reinfeldt muss sich auf die Suche nach weiteren Partnern machen, die er nur links finden kann, da er jede Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten ausgeschlossen hat. Ende einer Epoche. Dass das schwedische «Volksheim» mit diesem Doppelschlag geschlossen wird: Es war für viele Schweden ein Schock.

Bedeutende Siege

Was sich in Stockholm ereignete, hatte zuvor in vielen westeuropäischen Hauptstädten die politischen Eliten erschüttert. Ob in Belgien oder Holland: Überall errangen Anti-Immigrations-Parteien bedeutende Siege, obwohl oder vielleicht gerade weil sie von den übrigen Politikern und den Medien als populistisch oder xenophob oder gar rassistisch bezeichnet worden waren. Immigration ist zu einem der zentralen politischen Themen Westeuropas geworden. Oder um es aus unserer Perspektive zu betrachten: Europa vollzieht nach, was die Schweiz seit Jahren bereits vorgelegt hat. Wenn es eines Belegs bedurft hätte, dass dieses Land in manchen Dingen ein Sonderfall ist, dann ist es die Tatsache, dass die Ausländerpolitik hier schon seit Jahrzehnten auf der Agenda steht. Die direkte Demokratie reagiert sensibler auf die Sorgen der sogenannt einfachen Leute. Das ist das eine.

Zum anderen unterhöhlen Einwanderer das Selbstverständnis mancher westeuropäischer Länder auf eine noch fundamentalere Art: Zahlreiche soziologische und psychologische Studien legen den Schluss nahe, dass es Menschen leichter fällt, Leuten zu helfen, die sie für ihresgleichen halten. Mit Fremden, wie immer man diese definiert, sind sie weniger solidarisch. Lange beruhte der Sozialstaat auf der unausgesprochenen Übereinkunft, dass nur jene ihn in Anspruch nehmen, die nicht anders können. Solange eine Bevölkerung sehr homogen war – wie etwa die schwedische – kamen kaum Zweifel am Sozialstaat auf. In Schweden waren gegen 95 Prozent der Bürger weiss, lutheranisch und schwedischer Herkunft. Mit Minderheiten wie den Lappen tat man sich übrigens schwer.

Seit sich auch im Norden aber die Zusammensetzung der Bevölkerung verändert hat, weil immer mehr Einwanderer aus fernen Ländern zuströmen, ist die Bereitschaft gesunken, dem Sozialstaat zu vertrauen. Selbst wenn alle Einwanderer sich völlig korrekt verhielten: Weil sie keine Einheimischen sind, stehen sie prinzipiell unter Verdacht. Hinzukommt, dass die grosszügig ausgebauten Wohlfahrtsstaaten Europas natürlich überproportional von Einwanderern in Anspruch genommen werden – aus welchen Gründen auch immer. Eine Tatsache, die lange verschleiert wurde, weil man diese Wahrheit den Bürgern nicht zumuten wollte. Inzwischen ist das nicht mehr möglich. Umso verärgerter reagieren die Bürger, die unsanft aus einem Traum aufgeweckt wurden.

Zwietracht

Es war der Traum vom europäischen «Sozialmodell». Lange waren die meisten Europäer stolz auf diesen historischen Kompromiss zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung, auf dieses Gesellschaftsmodell, das sich so vorteilhaft von der brutalo-kapitalistischen Variante in Amerika zu unterscheiden schien. Nun steht es nicht bloss unter Druck, da es sich nicht mehr finanzieren lässt – darüber vermochten immer neue Schulden lange hinwegzutäuschen –, vielmehr ist es grundsätzlich in Misskredit geraten, weil manche Bürger glauben, Einwanderer lebten auf ihre Kosten. Zwietracht sät nun, was einst Arbeiterschaft und Bürgertum versöhnen sollte.

Europa steht vor einer schwierigen Wahl: Will es seinen Sozialstaat aufrechterhalten, muss es die Einwanderung rigoros beschränken. Weil dies erstens aber nicht möglich, und zweitens auch nicht erwünscht ist, werden die europäischen Politiker – ob in Schweden, Holland, Deutschland oder auch in der Schweiz – nicht darum herumkommen, den Sozialstaat deutlich zurückzufahren. Europa wird amerikanischer werden: multikultureller auf jeden Fall, aber auch härter.