Tages-Anzeiger
Rechtsextreme behaupten, das weltbekannte Buch des jungen Nazi-Opfers sei zur
«Holocaust-Indoktrination» verfasst worden. So verbreiten sie eine alte Mär.
Von Thomas Knellwolf, Basel
Am 12. Juni wäre Anne Frank 8o Jahre alt geworden. Wäre sie wohl, wenn nicht die
Nationalsozialisten in Europa gewütet hätten. Vor 65 Jahren kam das jüdische Mädchen aus
Frankfurt am Main im Konzentrationslager Bergen-Belsen um. Geschwächt, ausgehungert und
keine 17 Jahre alt, starb Anne Frank an Typhus.
Doch Anne lebt in der Erinnerung weiter. Ihr Tagebuch bewegt bis heute Millionen Menschen
rund um den Globus. Die Aufzeichnungen, die nach ihrer Deportation im engen Amsterdamer
Versteck der Familie zurückblieben, wurden in 55 Sprachen übersetzt. Von Birsfelden aus
kümmerte Annes Vater Otto (1889-1980), der als einziger der Familie die Judenvernichtung der
Nationalsozialisten überlebt hatte, zeitlebens um das literarische Vermächtnis seiner Tochter. In
der Gemeinde neben Basel wurde Anfang Monat ein Anne-Frank-Platz eingeweiht.
Alliierte sind schuld
Das passt der Basler Sektion der Partei national orientierter Schweizer (Pnos) ganz und gar
nicht. Auf ihrer Homepage schreibt die Pnos, es würden erneut «Lügen um Anne Frank»
verbreitet. Die Rechtsextremen behaupten, der Tod des Mädchens sei «insbesondere auf die
Bombardierung ziviler Ziele durch die alliierten ‹Befreier› zurückzuführen». «Genau wie andere
Lügen über Deutschland in der Zeit von 1933-1945», folgert die Pnos, «ist auch das Tagebuch
der Anne Frank eine geschichtliche Lüge!» Es diene der «Holocaust-Indoktrination junger
unbedarfter Kinder».
Die Splitterpartei kolportiert damit selber eine Geschichtsfälschung, die sie wortwörtlich aus der
Holocaustleugner-Schrift «Die verbotene Wahrheit» übernahm: Ein Gutachten des deutschen
Bundeskriminalamts BKA und das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» hätten im Jahr 198o die
Echtheit von Stellen des Tagesbuchs angezweifelt. Tatsächlich finden sich im Originaltext an
einzelnen Stellen Eintragungen mit Kugelschreiber. Der Kugelschreiber wurde aber erst sechs
Jahre nach Annes Tod erfunden.
Wie andere Holocaust-Leugner und -Relativierer verschweigt auch die Pnos Dreierlei: Dass die
holländische Erstfassung des späteren Bestsellers bereits 1947 publiziert wurde – ohne die
Kugelschreibereinträge. Dass die Kugelschreiber-Stellen vermutlich von einer deutschen
Grafologin stammen, die das Tagebuch analysierte. Und dass sowohl das BKA als auch der
«Spiegel» – und alle seriöse Geschichtswissenschaftler, die sich mit der Sache
auseinandersetzten, wiederholt erklärten, die Authentizität des Buches, das zu den
bestuntersuchten historischen Quellen gehört, sei nicht in Frage gestellt.
Annes Cousin: «Dummheit stirbt nie»
«Rechtsextreme versuchen immer wie-der», erklärt Anne Franks Cousin Buddy Elias, «Zweifel
an der Echtheit zu streuen, weil das Tagebuch eines der eindrücklichsten Dokumente der
Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten ist.» Der Schauspieler, der sich von Basel aus
um das Erbe seiner Cousine kümmert, qualifiziert die Äusserungen der Pnos folgendermassen
ab: «Dummheit stirbt nie aus. Doch Aufklärung hilft, sie einzudämmen.»