Neue Zürcher Zeitung
Innenminister Schäuble warnt vor dem militanten Islamismus
Schmid U.
Deutsche Rechtsextreme haben im vergangenen Jahr noch mehr Straftaten verübt
als 2007. Eine Gefahr für die Demokratie geht laut dem Verfassungsschutz auch
von militanten Islamisten aus. Innenminister Schäuble hält die Republik trotzdem für
ideell krisenresistent.
U. Sd. Berlin, 19. Mai
Das Grundgesetz, die deutsche Verfassung, wird dieser Tage 60 Jahre alt, und seit Anfang der
fünfziger Jahre wird seine Einhaltung vom Bundesamt für Verfassungsschutz geschützt.
Zusammen mit dessen Präsidenten Heinz Fromm hat Innenminister Wolfgang Schäuble am
Dienstag den Verfassungsschutzbericht 2008 vorgestellt, in dem im Vergleich zum Vorjahr eine
starke Zunahme politisch motivierter Kriminalität konstatiert wird, vor allem bei Rechtsextremen,
die um 15,8 Prozent mehr Straftaten und 6,3 Prozent mehr Gewalttaten verübten.
Gegen ein NPD-Verbots-Verfahren
Sorgen bereitet Schäuble primär das Erstarken der autonomen rechtsextremen Szene, die nicht
nur gewalttätiger geworden ist, sondern immer öfter die Verhaltensweisen von Linksextremen
imitiert und auch bei bewilligten Demonstrationen und ähnlichen Anlässen auftaucht. Bei
Maifeiern beispielsweise zeigen sich seit längerem regelmässig Neonazigruppen, so dieses
Jahr in Berlin oder in Dortmund, wo Rechtsextremisten friedlich demonstrierende
Gewerkschafter angriffen. Häufiger geworden sind auch Attacken auf Linksextreme, die
ihrerseits ihre Angriffe gegen Rechtsextreme oder vermeintliche Rechtsextreme 2008
geringfügig zurückgeschraubt haben. Beunruhigend ist laut Schäuble, dass die Zahl der
Neonazis erneut gestiegen ist. Dagegen gibt es weniger NPD-Mitglieder. Dezidiert und mit der
ihm eigenen Lakonie lehnte Schäuble einmal mehr einen neuen Anlauf zu einem
Verbotsverfahren gegen die NPD ab. Ein solches stünde verfassungsrechtlich auf tönernen
Füssen und könnte sich im Falle eines Scheiterns als Bumerang erweisen, sagte er.
Stark zugenommen hat laut dem Verfassungsschutzbericht die Gefahr, die Deutschland durch
gewaltbereite Islamisten droht. Dass sich Berlin im Rahmen der Uno-Bemühungen zum
Wiederaufbau in Afghanistan engagiert, hat laut Fromm Deutschland verstärkt ins Visier
islamistischer Terroristen gerückt. Deren Ausbildungslager im pakistanisch-afghanischen
Grenzbereich würden auch von jungen, in Deutschland aufgewachsenen Islamisten besucht
und stellten damit eine reale Gefahr für die Sicherheit des Staates dar. Fromm sprach von einer
neuen Qualität der Bedrohung. Ein spezielles Augenmerk der Verfassungsschützer gilt der
Gruppe von Terroristen oder potenziellen Terroristen, die der zweiten Einwanderergeneration
angehören und in Deutschland aufgewachsen sind, sowie dem Internet, das auch für die
Islamisten längst zum wichtigsten Kommunikations- und Propagandamedium geworden ist.
Spionage ist offenbar «normal»
Nicht ganz so dramatisch sieht es bei den Gewalttaten mit linksextremem Hintergrund aus. Hier
stieg die Zahl der Straftaten um 13 Prozent, die der Gewalttaten ging indessen um 15,8 Prozent
zurück. Während Rechtsextreme konstant und flächendeckend kriminell werden und dabei oft
auf eigene Faust Hatz gegen Ausländer – vor allem gegen solche mit dunkler Haut – machen,
treten gewaltbereite Linksextreme meist geballt und bei besonderen Anlässen wie etwa
Kundgebungen gegen die Globalisierung, gegen Kernenergie oder Rechtsextremismus in
Erscheinung. Nach wie vor beobachtet wird auch die Partei «Die Linke». Sie bietet laut dem
Bericht noch immer Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen, da sie eine politische
Umgestaltung der Republik verfolge, die mit den entscheidenden Merkmalen eines freiheitlichen
demokratischen Staates unvereinbar sei. Eher belustigend wirkt in einer Zeit, in der selbst CDU-
Politiker Staatsbeteiligungen an Banken vorschlagen, der Hinweis, dass die Linken-
Europaabgeordnete Sahra Wagenknecht die Frage, ob sie den BMW-Konzern enteignen
würde, bejaht habe.
Wegen seiner geopolitischen Lage und als Standort von zahlreichen Unternehmen mit
Spitzentechnik ist Deutschland ein attraktives Ziel für fremde Geheimdienste. Laut dem
Verfassungsschutzbericht werden deutsche Unternehmen und Regierungsstellen immer öfter
zum Ziel von Hackern, die im Auftrag ausländischer Geheimdienste arbeiten. Besonders aktiv
sind dabei offenbar Russland und China. An die grosse Glocke wollten dies am Dienstag
allerdings weder Schäuble noch Fromm hängen. Solcherlei Aktivitäten scheint man im offiziellen
Berlin – im Gegensatz zum gewaltbereiten Extremismus – augenscheinlich nicht als
aussergewöhnlich oder besonders besorgniserregend einzustufen. Spionage, so das nicht
ausgesprochene Fazit, ist unangenehm, aber «normal».
«Erwachsene» Bundesrepublik
Schäuble verfolgte bei der Präsentation des Verfassungsschutzberichts ein doppeltes Ziel.
Einerseits war ihm spürbar daran gelegen, seinen Verfassungsschützern und ihrem Chef
Fromm gute Arbeit zu attestieren. Mit Glück und Umsicht sei man an schweren Anschlägen im
vergangenen Jahr vorbeigekommen, was nicht zuletzt solider Aufklärungsarbeit zu verdanken
sei, sagte der Minister. Anderseits wies er klar auf die steigende Gefährdung der inneren
Sicherheit hin und qualifizierte die wachsende Gewaltbereitschaft im rechten und im
islamistischen Lager als sehr besorgniserregend. Dass die Wirtschaftskrise den Extremisten
Zulauf bescheren könnte, stellte Schäuble indessen mit erstaunlicher Verve in Abrede. Man
habe es in Deutschland mit einer «erwachsen gewordenen Demokratie» zu tun. Anders als vor
dem Zweiten Weltkrieg sei der Respekt vor der Rechtsstaatlichkeit tief verankert, und Umfragen
zeigten, dass die Bevölkerung der Krise erstaunlich ernst und gelassen begegne.