Tages-Anzeiger vom 21.06.2009
Rechtsextreme behaupten, das weltbekannte Buch des jungen Nazi-Opfers sei zur «Holocaust-Indoktrination» verfasst worden. So verbreiten sie eine alte Mär.
Thomas Knellwolf
Am 12. Juni wäre Anne Frank 8o Jahre alt geworden. Wäre sie wohl, wenn nicht die Nationalsozialisten in Europa gewütet hätten. Vor 65 Jahren kam das jüdische Mädchen aus Frankfurt am Main im Konzentrationslager Bergen-Belsen um. Geschwächt, ausgehungert und keine 17 Jahre alt, starb Anne Frank an Typhus.
Doch Anne lebt in der Erinnerung weiter. Ihr Tagebuch bewegt bis heute Millionen Menschen rund um den Globus. Die Aufzeichnungen, die nach ihrer Deportation im engen Amsterdamer Versteck der Familie zurückblieben, wurden in 55 Sprachen übersetzt. Von Birsfelden aus kümmerte Annes Vater Otto (1889–1980), der als einziger der Familie die Judenvernichtung der Nationalsozialisten überlebt hatte, zeitlebens um das literarische Vermächtnis seiner Tochter. In der Gemeinde neben Basel wurde Anfang Monat ein Anne-Frank-Platz eingeweiht.
Alliierte sind schuld
Das passt der Basler Sektion der Partei national orientierter Schweizer (Pnos) ganz und gar nicht. Auf ihrer Homepage schreibt die Pnos, es würden erneut «Lügen um Anne Frank» verbreitet. Die Rechtsextremen behaupten, der Tod des Mädchens sei «insbesondere auf die Bombardierung ziviler Ziele durch die alliierten «Befreier» zurückzuführen». «Genau wie andere Lügen über Deutschland in der Zeit von 1933–1945», folgert die Pnos, «ist auch das Tagebuch der Anne Frank eine geschichtliche Lüge!» Es diene der «Holocaust-Indoktrination junger unbedarfter Kinder».
Die Splitterpartei kolportiert damit selber eine Geschichtsfälschung, die sie wortwörtlich aus der Holocaustleugner-Schrift «Die verbotene Wahrheit» übernahm: Ein Gutachten des deutschen Bundeskriminalamts BKA und das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» hätten im Jahr 198o die Echtheit von Stellen des Tagesbuchs angezweifelt. Tatsächlich finden sich im Originaltext an einzelnen Stellen Eintragungen mit Kugelschreiber. Der Kugelschreiber wurde aber erst sechs Jahre nach Annes Tod erfunden.
Wie andere Holocaust-Leugner und -Relativierer verschweigt auch die Pnos Dreierlei: Dass die holländische Erstfassung des späteren Bestsellers bereits 1947 publiziert wurde – ohne die Kugelschreibereinträge. Dass die Kugelschreiber-Stellen vermutlich von einer deutschen Grafologin stammen, die das Tagebuch analysierte. Und dass sowohl das BKA als auch der «Spiegel» – und alle seriöse Geschichtswissenschaftler, die sich mit der Sache auseinandersetzten, wiederholt erklärten, die Authentizität des Buches, das zu den bestuntersuchten historischen Quellen gehört, sei nicht in Frage gestellt.
Annes Cousin: «Dummheit stirbt nie»
«Rechtsextreme versuchen immer wie-der», erklärt Anne Franks Cousin Buddy Elias, «Zweifel an der Echtheit zu streuen, weil das Tagebuch eines der eindrücklichsten Dokumente der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten ist.» Der Schauspieler, der sich von Basel aus um das Erbe seiner Cousine kümmert, qualifiziert die Äusserungen der Pnos folgendermassen ab: «Dummheit stirbt nie aus. Doch Aufklärung hilft, sie einzudämmen.»