Der Sprecher der Stadtzürcher Polizei zur Taktik gegenüber Rechtsextremen
Skinheads haben am Samstag-abend Zürichs Innenstadt unsicher gemacht. Es geschah nicht zum ersten Mal. Wieder gibt das Verhalten der Polizei Anlass zu Diskussionen. War sie zu large, handelte sie „situationsgerecht“?
Autor: VON PETER HAERLE
Walter Gehriger, Sprecher der Zürcher Stadtpolizei, ändert seine Meinung nicht von einem Tag auf den anderen. Sagt er. Das Verhalten der Polizei gegenüber den 100 Rechtsextremen im Zürcher Niederdorf sei, auch ein Tag danach betrachtet, richtig gewesen – „situationsgerecht“.
Bis abends um neun Uhr seien die rund 30 Skins ruhig vor der „Pumpi-Bar“ im Niederdorf gestanden und hätten einem zivilen Polizisten mitgeteilt, „ihr Territorium zu beschützen, falls ihre Gegner – die Linken – kämen“, sagt Gehriger. Kein Grund zum Eingreifen also, denn „wenn 30 Skinheads auf dem Hirschenplatz stehen, dann dürfen sie das, wie auch 30 Turner oder Mitglieder eines Jodlerchörlis“, sagt Gehriger.
Hitlergruss
Doch dann änderte sich die Situation. Zwischen neun und zehn Uhr wurden aus den 30 Skins plötzlich 100. Rasch formierten sie sich und marschierten laut pöbelnd – zum Teil mit Hitlergruss – durch das Niederdorf bis zum Grossmünster und zurück. Augenzeugen berichteten, die Skinheads hätten Hakenkreuze auf ihren Jacken getragen sowie fremdenfeindliche und antisemitische Parolen geschrien. Wer sich dem Zug in den Weg gestellt habe, sei angerempelt worden.
Erst nachdem sie zweimal durchs Niederdorf marschiert waren, stellte sich die Polizei den Jugendlichen in den Weg. „Der Einsatzleiter forderte sie auf, den Umzug aufzulösen.“ Darauf hätten sie sich rasch in alle Richtungen verzogen.
Weshalb hat die Polizei, statt sofort einzugreifen, zugesehen, wie der Pöbel gegen das Anti-Rassismus-Gesetz verstossen hat? „Einen Grossbrand löscht man nicht mit einem Joghurtbecher – zwölf Polizisten gegen 100 Skins. Das Kräfteverhältnis hat nicht gestimmt“, sagt Gehriger.
Die Verhältnismässigkeit: Wann hat die Polizei einzugreifen, wann nicht? Schon mehrere Male waren Rechtsextreme in den vergangenen zwei Jahren, antisemitische Parolen schreiend und Ausländer anpöbelnd, durchs Zürcher Niederdorf gezogen. Zum Beispiel am Ostersamstag 1995, einige Tage vor Hitlers Geburtstag am 20. April. Auch damals hat die Polizei die Jugendlichen beobachtet und nicht eingegriffen, auch damals begründetete Walter Gehriger die Taktik mit der „Wahrung der Verhältnismässigkeit“.
Nachdem am darauffolgenden Wochenende erneut ein Passant von Skinheads zusammengeschlagen worden war, verhaftete die Polizei zwei Jugendliche im Alter von 18 und 20 Jahren. Gerade diese Verhaftungen zeigten, dass man „sehr wohl handle“, wehrte sich Polizeisprecher Bruno Kistler damals gegen Vorwürfe, die Polizei unternehme nichts gegen Rechtsextreme. Zudem kündigte er an, deren Szene im Niederdorf stärker zu beobachten.
Doch die Ausschreitungen gingen weiter. Im August 1995 zettelten rund 20 Skinheads im „McDonald’s“ eine Schlägerei an. 14 wurden für kurze Zeit festgenommen. Als Reaktion auf die Aktionen der Rechtsextremen riefen militante linke Jugendliche zu „antifaschistischen Spaziergängen“ auf. Fünfmal kam es im Jahr 1995 noch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen extremen Linken und Rechten. Am 18. November erklärte Bruno Kistler im TA angesichts der Gewalt im Niederdorf, man wolle schon im Vorfeld präsent sein. Vor allem versuche man, die Identität möglicher Straftäter festzustellen, „damit diese nicht aus der Anonymität heraus handeln könnten“.
Angst vor den Skinheads?
Kistlers Vorsatz wurde am vergangenen Samstag nicht befolgt. Walter Gehriger erklärt weshalb: „Personenkontrollen machen, Personalien festhalten und Daten sammeln dürfen wir nicht.“ Das neue Datenschutzgesetz, welches nach der Fichenaffäre eingeführt worden sei, verbiete das. Das stimmt nur zum Teil. Die Polizei selber hat nämlich vor noch nicht allzu langer Zeit Personalien aufgenommen, hingegen nicht aufbewahrt, wie sie damals mitteilte: Anlässlich einer unbewilligten Demonstration von militanten Linken überprüfte sie am 13. April 1996 Alter, Herkunft und Motive von 73 der 300 Teilnehmer. Am 24. April 1996 veröffentlichte sie die Daten.
Hätte sie nicht analog zu dieser Aktion auch am Samstag die Personalien einiger der 100 Skins überprüfen können? Walter Gehriger kontert mit einer Gegenfrage an den Journalisten: „Wären Sie gerne der 14. Polizist gewesen, der hundert besoffene, aggressive Schlägertypen kontrollieren muss, glauben Sie, die hätten sich das gefallen lassen von zwölf oder dreizehn Polizisten.“ Angst vor Skinheads? Nein, die Polizei sei entsprechend ausgerüstet.
Gemäss Bruno Kistlers Ankündigung, die Rechtsextremen besser zu beobachten, hätte die Polizei schon im voraus Kenntnis vom samstäglichen Treffen haben müssen. „Gerüchteweise“ habe man etwas gehört, sagt Gehriger. Ansonsten verfüge die Polizei nicht über mehr Kenntnisse der Rechtsextremen-Szene als ein Journalist.
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„Der Skinhead respektiert die Polizei“
Neu formiert, dumpfere Inhalte – die Rechtsextremen tauchen wieder auf
Der Autor und Journalist Jürg Frischknecht kennt sich in der Rechtsextremen-Szene bestens aus. Für ihn haben die Vorfälle vom Samstag gezeigt, dass man in der Schweiz wieder mit den Skinheads rechnen muss.
Autor: MIT JÜRG FRISCHKNECHT SPRACH THOMAS BOLLI
Hat Sie der Skinhead-Auftritt vom Samstag überrascht?
Ja, das war das erste grosse öffentliche Erscheinen dieser Szene nach dem November 1995. Damals hatte die Luzerner Polizei nach einem Überfall von Skinheads auf ein Fest in Hochdorf etliche von ihnen verhaftet, einvernommen und Häuser durchsucht. Daraufhin war es ruhiger geworden um die Szene.
Das werden die Luzerner gerne hören. Ist resolutes Vorgehen also die richtige Strategie?
Für die Skinheads stellt die Polizei nach wie vor eine Autorität dar, deren Anordnungen respektiert werden. Es ist deshalb entscheidend, wie sie sich verhält. Wer sich so zurückhält wie die Zürcher Polizei, hat nichts verstanden. Schaut die Polizei nur zu, wittern die Skinheads einen Freiraum, den sie ungeniert nutzen, greift sie ein, blasen die Skins zum Rückzug. Passivität aber ermuntert sie.
Woher wissen Sie das?
Einerseits aufgrund von Kontakten zu Leuten aus der Szene selber, aber auch aufgrund des Berichts über Rechtsextremismus in der Schweiz von Altermatt und Kriesi.
Gedeckt gefühlt
Am Samstagabend hatten die Skins das Ultimatum der Polizei akzeptiert und zogen sich zurück. Der Staat war also nicht ohnmächtig.
So ist es. Anders als in Deutschland haben Schweizer Skins auch noch nie die Polizei attackiert. Alle Erfahrungen zeigen, dass sie davon ausgehen, die Polizei stehe auf ihrer Seite. Ihr grösstes Erfolgserlebnis ist bis heute der 23. September 1995 geblieben, als sie, geschützt von der Polizei, in Zürich Steine gegen Linke schmeissen konnten. Die Verhörprotokolle zeigen, wie sehr sich die Skinheads in ihrem Tun von der Polizei gedeckt fühlten.
Haben die Vorfälle vom vergangenen Samstag etwas mit Hitlers Geburtstag demnächst zu tun?
Sie waren vielleicht so etwas wie eine Hautprobe. Es haben sich in den vergangenen Monaten aber ohnehin die Anzeichen dafür gemehrt, dass sich die Szene neu formiert.
Was für Anzeichen?
Ich erhalte Anrufe von Leuten, die mir von Skinhead-Treffen in ihrem Ort berichten, im Zürcher Seeland sind Anwohnern einschlägige Autoaufkleber aufgefallen, die Skinhead-Band „Sturmtruppen“ hat sich wieder formiert. Das wird auch von ausländischen Gruppen wahrgenommen – die Kontakte führen über die Grenzen hinaus.
Dumpf gewordene Ideologie
Sind die Skinheads noch immer die gleichen wie vor ein paar Jahren?
Die Ideologie eines militanten, gewaltbereiten und antisemitischen Rassismus ist sich gleich geblieben, wenngleich irgendwie dumpfer geworden, anders als der „programmatische“ Neonazismus von 1989 bis 1991. Weniger gefährlich allerdings ist er nicht.
Wie stark reagieren Skins auf aktuelle Themen der Allgemeinheit?
Wie sie die Äusserungen von Delamuraz aufgenommen haben, weiss ich nicht, aber klar ist, dass Christoph Blocher seit langem ein Hoffnungsträger ist. Allerdings wäre die Behauptung falsch, Blocher unterstütze umgekehrt die Skinheads.
„Ich bin stolz . . .“
Glauben Sie, die Skinheads interessieren sich für die gegenwärtige Diskussion in der Schweiz über Holocaust-Gelder und die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg?
Insofern sicher, als sie sich mit der Schweiz identifizieren gemäss dem Motto „Ich bin stolz, ein Schweizer zu sein“. Die gegenwärtige Diskussion empfinden sie als Attacke auf ihre Schweiz.
Es stellt sich auch heute wieder die Frage: Soll man über die Aktionen der Skinheads berichten – sie werden sich als Heroen fühlen -, oder soll man schweigen?
Selbstverständlich sehen sie sich gerne in den Medien. Doch mehr zählt, dass die Presse darüber berichtet, wie die Staatsmacht mit den Rechtsextremen umgeht. Allerdings darf sie sie nicht benutzen, um Auflagen zu steigern.
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Neukomm unter Beschuss
FDP und SVP wollen Rücktritt
Erneut scharfe Kritik am Zürcher Polizeivorstand Robert Neukomm (SP): Wegen seiner Vorwürfe gegen Bundesrat Delamuraz und SVP-Nationalrat Blocher nach der Skinhead-Attacke vom Samstag und des passiven Verhaltens der Stadtpolizei fordern FDP und SVP seinen Rücktritt.
Autor: VON MARTIN HUBER
Kaum ist die politische Aufarbeitung des Einsatzes gegen gewaltbereite Exponenten der linken Szene am vergangenen 1. Mai abgeschlossen, gerät die Zürcher Stadtpolizei erneut unter Beschuss. Grund dafür ist ihr als zu passiv kritisiertes Verhalten gegenüber rund 100 Rechtsextremen, die am Samstag im Zürcher Niederdorf während mehrerer Stunden Passanten terrorisiert und mindestens drei Jugendliche verletzt hatten. Die Stadtpolizei war nicht in der Lage, die Körperverletzungen und Verstösse gegen das Anti-Rassismus-Gesetz zu ahnden (TA vom Montag).
„Wiederholte Fehlleistungen“
Das zögerliche Verhalten der Ordnungshüter hat massive Kritik hervorgerufen und am Montag für ein politisches Nachspiel gesorgt. Die Kantonsratsfraktionen von SVP und FDP forderten Neukomm zum Rücktritt auf. Der Polizeivorstand müsse jetzt die Konsequenzen aus seinen wiederholten Fehlleistungen ziehen, hiess es. SVP und FDP hielten Neukomm vor, er habe es nicht fertiggebracht, ein taugliches Einsatzkonzept für gewalttätige Spontandemonstrationen auszuarbeiten.
Für Empörung sorgte bei FDP und SVP im weiteren Neukomms Äusserung in der „Tagesschau“ vom Sonntag, in der er Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz (FDP) und SVP-Nationalrat Christoph Blocher beschuldigte, mit politischen Aussagen den Boden für rechtsextreme Auftritte geebnet zu haben. Mit solchen Anschuldigungen versuche Neukomm nur, von seinem Versagen abzulenken.
Die SP-Kantonsratsfraktion bezeichnete die Rücktrittsforderungen als „Vorwahlgeplänkel“, räumte aber ein, dass Neukomm für seine „Fehleinschätzung“ die politische Verantwortung trage. Laut SP muss aber auch die Frage nach dem politischen Klima gestellt werden, das solchen Gewaltexzessen Vorschub leistet. Dieses Klima werde geprägt durch Feindbilder, an denen auch die von Neukomm genannten Politiker nicht ganz unbeteiligt seien.
Die Vorfälle werden auch das Stadtparlament beschäftigen, wie Ueli Keller, Präsident der parlamentarischen Geschäftsprüfungskommission, erklärte. Geprüft werden müsse, ob die Polizei nicht besser auf den Skinhead-Übergriff hätte vorbereitet sein müssen und weshalb sie derart lange nichts gegen die pöbelnden Skins unternommen habe.
Bereits nach der Anti-EU-Kundgebung vom Spätsommer 1995 war der Stadtpolizei vorgeworfen worden, sie sei gegen randalierende Rechtsextreme nicht mit der nötigen Härte eingeschritten.
Markierung des Reviers
Vorerst unklar blieb, inwiefern die Ankündigung eines „Antifaschistischen Spaziergangs“ von Anhängern der autonomen Szene Auslöser für die Skinhead-Übergriffe war. In einem Communiqué schilderten Betroffene die Ereignisse vom Samstagabend aus ihrer Sicht. Demnach hätten sich etwa 20 autonome Jugendliche „in Partystimmung“ am Central versammelt. Eine Viertelstunde später seien 50 mit Stahlruten bewaffnete Skinheads auf sie losgestürmt und hätten auf sie eingeprügelt.
Die Rechtsextremen hatten offenbar per Flugblatt in der ganzen Deutschschweiz und in Deutschland mobilisiert. Nach Angaben von Augenzeugen befanden sich auch viele Deutsche unter den Randalierern. Szenekenner vermuten, dass die Rechtsextremen die Veranstaltung der Autonomen nur zum Vorwand genommen haben, um ihnen einen Denkzettel zu verpassen und das Niederdorf als ihr eigenes Revier, als das sie es betrachten, zu verteidigen. Die Zeit Anfang April, im Vorfeld von Hitlers Geburtstag am 20. April, gilt traditionell als eine Phase vermehrter rechtsradikaler Aktivitäten.