Tagesanzeiger vom 15.07.1999
Zürich und Region
Bei einer Schlägerei zwischen Linksradikalen und Rechtsextremen wollten zwei Stadtpolizisten nichts von den Skinheads bemerkt haben. Ein Richter zweifelt an der Neutralität der Polizisten.
Autor: Von Thomas Isler
Es muss ein heilloses Durcheinander geherrscht haben, damals, am 19. Dezember 1997, im Hauptbahnhof: Versprengte Autonome irrten durch die Halle, Rechtsradikale grölten Parolen, Passanten gafften, und Stadtpolizisten versuchten Ordnung zu schaffen.An diesem Freitagabend waren zuvor etwa 70 Autonome demonstrierend unterwegs gewesen. Auf den Transparanten beschworen sie den Klassenkampf, mit Parolen verurteilten sie den Faschismus („Faschisten raus!“). Die Stadtpolizei verhinderte, dass der unbewilligte Zug in die Bahnhofstrasse einschwenken konnte. Eine Gruppe von Demonstranten setzte sich darauf in den Hauptbahnhof ab, wo sich etwa 30 Rechtsradikale befanden. Beim Treffpunkt kam es zu einem unschönen Zusammentreffen.Nach der Schlägerei kamen zwei Linksautonome im Alter von 21 und 25 Jahren in Untersuchungshaft – für 18 Tage. Ihnen wurde Gewalt und Drohung gegen Beamte vorgeworfen. Die Justiz bemühte sich darauf, Ordnung in die Schlägerei zu bringen, versuchte herauszufinden, wer wen zuerst angegriffen und wer genau mit wem gerungen hatte. Das Urteil ist inzwischen gefällt, wie kürzlich bekannt wurde: Der jüngere Angeklagte wurde freigesprochen, der ältere hingegen zu 21 Tagen Gefängnis bedingt verurteilt. So weit, so normal.
Die Bahnpolizisten hörten es
Das Urteil äussert sich allerdings auch zur Wahrnehmungsfähigkeit zweier Stadtpolizisten – und die scheint weniger normal. Schon im Journal der Stadtpolizei waren die Vorgänge in der Bahnhofshalle eher seltsam beschrieben worden: Von der linksautonomen Gruppe „wurde eine unbek. Person (Rockertyp) vor dem Gleis 10 angegriffen u. traktiert“, heisst es da. Ein Rockertyp? Oder eher eine Gruppe Rechtsradikaler? „Nein“, antworteten später zwei Stadtpolizisten, die im Prozess gegen die angeklagten Autonomen als Belastungszeugen auftraten. „Nein“, sie hätten keine Skinheads bemerkt, sie hätten keine „Sieg Heil“-Rufe vernommen und auch keine Hitler-Grüsse bemerkt.Es waren rund 20 Bahnpolizisten, welche die Wahrnehmungsschwäche der beiden Stadtpolizisten ans Licht brachten. Die Beamten der SBB waren damals der Stadtpolizei zu Hilfe geeilt und hatten am Tatort ganz andere Beobachtungen gemacht: „Auf der Seite vom Treffpunkt befand sich eine grössere Gruppe von Rechtsextremen, die mit Hitler-Parolen („Sieg Heil“) gegen die sich in der Mitte befindenden Personen (vorwiegend der linken Szene zugehörend) aufhetzten“, schrieb etwa einer der Bahnpolizisten in seinem Wahrnehmungsbericht zuhanden der Justiz. Und ein anderer notierte: „Auf der Höhe vom Treffpunkt kam es dann zur Auseinandersetzung zwischen Links- und Rechtsgerichteten. Zu diesem Zeitpunkt erschien die Stadtpolizei mit fünf bis sechs Beamten und griff in das Handgemenge ein, um zu schlichten. Nun geriet die Situation ausser Kontrolle und eskalierte völlig.“ Und eine Bahnpolizistin wusste auch, wieso die Linken so aufgebracht waren: „Direkt vor mir befanden sich mehrere linke Jugendliche, aufs Äusserste erregt und aufgebracht. Lautstark empörten sich diese, dass die Rechten ungehindert ihre Nazi-Parolen schreien konnten und die Polizei nichts dagegen unternahm.“
Der Richter zweifelt
Das mangelnde Beobachtungsvermögen der Stadtpolizisten hat ihre Glaubwürdigkeit im Prozess schwer beeinträchtigt – und unter anderem zum Freispruch des einen Angeklagten geführt. Es könne nicht übersehen werden, heisst es im Urteil, dass die beiden in Abrede stellten, in der Bahnhofshalle Rechtsradikale wahrgenommen zu haben, die „Heil Hitler“ riefen und die Hand zum Hitler-Gruss ausstreckten. „Dies erstaunt angesichts der vorliegenden Wahrnehmungsberichte mehrer Bahnpolizeibeamter“, welche solches klar bestätigten und von tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Linksautonomen und Rechtsradikalen sprächen. „Und es wirft die Frage auf nach der Unvoreingenommenheit des Zeugen in dieser Auseinandersetzung“, heisst es im Urteil.
„Gewiss ein Einzelfall“
Hat nun also ein Richter bestätigt, was Linke schon immer vermutet haben? Dass nämlich die Stadtpolizei auf dem rechten Auge blind sei, weil sie bei der Anti-Blocher-Demo im September 1995 Skinheads unter ihrem Schutz Steine werfen liess oder weil sie im April 1997 rund 100 Skinheads unbehelligt durchs Niederdorf marschieren liess? „Da muss ich klar mit Nein antworten“, sagt Erik Eitle, Pressesprecher beim Polizeiamt, der sich zuvor mit Stadträtin Esther Maurer besprochen hat. Zwar habe er im jüngsten Fall nur rudimentäre Aktenkenntnisse, aber die Vorgänge im Hauptbahnhof seien gewiss ein Einzelfall gewesen. Und: „Wenn zwei Polizisten mit angreifenden Autonomen beschäftigt sind, kann es natürlich sein, dass sie die Vorgänge im Hintergrund nicht bemerken“, mutmasst Eitle. „Für den Richter ist das anders. Der kann später ruhig die Akten studieren, das muss man auch berücksichtigen.“