Mario Calabresi über seinen Vater und die Roten Brigaden
Calabresi, das ist in Italien nicht irgendein Name. Aus dem harmlosen Familiennamen ist längst eine Chiffre geworden für eine Phase von Gewalt, Terror und gesellschaftlicher Zerrissenheit. Luigi Calabresi hiess der Polizeikommissar, der am 17. Mai 1972 um neun Uhr morgens von den Roten Brigaden mit zwei Schüssen getötet wurde und zu den ersten Opfern eines mörderischen Jahrzehnts gehörte. Er wollte gerade in den blauen Fiat Cinquecento seiner Frau steigen; sie erwartete das dritte Kind, er war fünfunddreissig Jahre alt. – Als die junge Witwe vom Tod ihres Mannes erfuhr, rannte sie von Sinnen durch die Wohnung. An ihrem Rock klammerte sich der älteste Sohn Mario fest, dem sich dieser Moment einbrannte. Es ist der Ausgangspunkt einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit seinem Vater. Mario Calabresi, Jahrgang 1970, Journalist von Beruf und USA-Korrespondent der Tageszeitung «La Repubblica», hat ihm jetzt ein Buch gewidmet. «Der blaue Cinquecento» heisst seine autobiografische Recherche. Mit Mario Calabresi ergreift zum ersten Mal jemand das Wort, der zu den Leidtragenden der Anschläge gehört.
Piazza Fontana
«Mörder-Kommissar», so wurde Luigi Calabresi in Graffiti, Pamphleten der ausserparlamentarischen Bewegung Lotta continua und sogar in Zeitungsartikeln der bürgerlichen Presse gebrandmarkt. Man bezichtigte den Polizisten, die Schuld am Tode des Anarchisten Giuseppe Pinelli zu tragen. Pinelli war nach dem Bombenattentat auf der Mailänder Piazza Fontana vom 12. Dezember 1969 festgenommen worden und wenige Tage später bei einem Fenstersturz aus Calabresis Büro ums Leben gekommen. Der Kommissar befand sich zu dem Zeitpunkt nicht im Zimmer, aber da er mit den Ermittlungen betraut war und ausserdem den Dialog mit Leuten wie dem Verleger Feltrinelli und anderen Vertretern linksradikaler Gruppierungen suchte, galt er als zentrale Gestalt der Behörde. Seine Vorgesetzten versäumten es, die Vorgänge rasch aufzuklären. Die Öffentlichkeit reagierte mit einer Mischung aus Zorn und Skepsis. Nachdem die Kommunistische Partei bei den Wahlen von 1963 fünfundzwanzig Prozent der Wählerstimmen erreicht hatte und trotz einem grossen gesellschaftspolitischen Reformbedarf wieder nicht an der Regierung beteiligt worden war, herrschte eine gespannte Atmosphäre.
Der Kalte Krieg schürte die Angst vor einem zu starken Linksruck, unter den regierenden Christlichdemokraten stagnierte das Land, und es zeichneten sich Radikalisierungen ab. Im Vorfeld von 1968 kam es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen organisierten Neofaschisten und der Arbeiter- und Studentenbewegung. 1969 setzte eine Reihe von Attentaten ein – darunter besagter Anschlag auf der Piazza Fontana -, die als «stragi di stato», als «Staatsattentate», in die Geschichte eingingen. Ausgeführt wurden sie von Neofaschisten, aber der italienische Militärgeheimdienst zog im Hintergrund die Fäden. Verschiedene Kräfte, darunter die verfassungsfeindliche Geheimloge P2 mit ihren zum Teil aus höchsten Regierungskreisen stammenden Mitgliedern, verfolgten eine sogenannte «Strategie der Spannung», um die Bevölkerung zu verunsichern, Panik zu verbreiten und autoritäre Staatsstrukturen zu rechtfertigen. Trotz eindeutigen Spuren, die im Zusammenhang mit dem Attentat auf der Piazza Fontana ins rechtsextreme Lager führten, wurde der Verdacht immer wieder auf die Linke gelenkt.
Dass die Stimmung so aufgeladen war, Journalisten den Staatsapparat scharf angriffen und Luigi Calabresi zum Sündenbock gemacht wurde, hing mit dem nachlässigen Umgang der Behörden mit dem Rechtsterrorismus zusammen. Immer wieder scheiterte die Polizei bei der Verfolgung von Straftätern, es kam zu Freisprüchen mangels Beweisen oder zu Aufhebungen von Urteilen in der zweiten Instanz. In irrationalen Steigerungen bildeten sich Formen von Lynchjustiz heraus, woran auch die bürgerliche Presse nicht unschuldig war. 1971 veröffentlichte das Wochenmagazin «Espresso» ein Manifest, das Calabresi als «Folter-Kommissar» bezeichnete und von achthundert Intellektuellen unterzeichnet worden war. Es traf ausgerechnet einen der liberalsten Polizeikommissare: Luigi Calabresi war ein treuer Staatsdiener, aber er glaubte an die Möglichkeiten des Dialogs. Am tödlichen Sturz des Anarchisten hatte er keine Schuld, was ein viele Jahre später geführter Prozess belegt. Als er starb, erschienen nur vier Todesanzeigen – man nahm seine Ermordung mit stillem Einverständnis hin.
Terror von links und rechts
Der Tod Calabresis läutet ein gewaltsames Jahrzehnt ein. Zwischen 1969 und 1984 starben bei 524 Terroranschlägen von rechts 199 Menschen. Im selben Zeitraum gab es 2187 linksextremistische Anschläge mit 145 Toten. Mario Calabresi beschäftigt sich in «Der blaue Cinquecento» nur am Rande mit den politischen Hintergründen, er verzichtet auf eine Analyse des Terrorismus und bietet keine Erklärungsmodelle. Sein Buch ist ein sehr persönliches Zeugnis: Der Journalist rekapituliert die Lage seiner Eltern kurz vor der Ermordung, schildert seine vaterlose Kindheit, beschreibt seinen ohnmächtigen Schmerz und nimmt immer wieder Bezug auf die Schicksale anderer Terroropfer. So erzählt er die Geschichte des Leiters der Poliklinik von Mailand Luigi Marangoni. Dieser Arzt hatte eine Gruppe von Pflegern zur Rede gestellt, die als Protestaktion gegen die autoritäre Struktur des Krankenhauses Tag für Tag den Stecker aus einem Kühlschrank mit Blutkonserven zogen. Das Blut wurde schlecht, und wichtige Operationen konnten nicht durchgeführt werden. Als die Aktionen trotz einer Verwarnung nicht aufhörten, zeigte Marangoni die Pfleger an. Zwei Monate später wurde er umgebracht. Ein anderer Mann, Grundschullehrer von Beruf und Gemeinderatsmitglied für die Democrazia cristiana, tat nichts anderes, als Leuten bei Rentenanträgen zu helfen, und galt ebenfalls als Repräsentant des verhassten Systems. Mitglieder der Roten Brigaden zerschossen ihm die Beine.
Mario Calabresi lässt mehrere Schicksale dieser Art in sein Buch einfliessen. Während Gewalt in den siebziger Jahren zu einem Mittel der existenziellen Selbsterfahrung stilisiert wird, Ex-Terroristen bis heute einen gewissen Glamour besitzen und durch Talkshows tingeln, sind die Hinterbliebenen ein unbequemes Vermächtnis. Es geht Calabresi aber nicht um eine moralische Überlegenheit. Er bemüht sich, die Geschehnisse möglichst unprätentiös darzulegen, und wählt eine einfache, präzise Sprache. Berührend ist seine Offenheit; Groll oder Rachegelüste sind nicht zu spüren, stattdessen steht das menschliche Leid im Vordergrund. Calabresis gelassene Haltung mag ein Grund für den Erfolg von «Der blaue Cinquecento» sein. Das Buch verkaufte sich in Italien über 200 000 Mal und löste eine breite Diskussion aus. Noch heute ist das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat tief gespalten, und vielleicht will man jetzt den Verwerfungen der siebziger Jahre ohne ideologische Vorbehalte auf den Grund gehen.
Trotz den sparsamen rhetorischen Mitteln mögen für deutsche Ohren manche Äusserungen Calabresis eine Spur zu pathetisch klingen; auf dem Hintergrund der italienischen Wirklichkeit ist das aufblitzende Pathos nur allzu verständlich. Mario Calabresi plädiert für eine umfassende Erinnerung, die alle Seiten mit einbezieht. Der Reiz seines Buches besteht gerade in diesem privaten Anliegen. Den Tod seines Vaters hat er als einen Auftrag begriffen.