Skinheads übernehmen die rechtsextremistische Szene
Der derzeit in den Medien vermittelte Eindruck, rechtsextremistische Übergriffehätten sich in jüngster Zeit vervielfacht, trifft so nicht zu. Zu beobachten istallerdings ein Wandel innerhalb der rechtsextremistischen Szene, die seit 1992zunehmend von gewalttätigen, jugendlichen Skinheads dominiert wird. Diesenutzen für ihre propagandistischen Zwecke die neuen technischenErrungenschaften des Internets, was zu einem eigentlichen Web-Rassismusauszuufern droht.
se. Auch dieses Jahr fand die Serie rechtsextremistischer Übergriffe in der Schweiz ihre traurigeFortsetzung. So etwa mit den Brandanschlägen auf Asylbewerberheime im zürcherischen Küsnacht(21. März) und im aargauischen Möhlin (17. Juli) oder mit den Gewehrsalven auf eine vonLinksaktivisten bewohnte Liegenschaft in Bern (10. Juli). Eigentümlicherweise nahm dasBoulevardblatt «Blick» aber ausgerechnet den im Vergleich zu diesen Anschlägen eherundramatischen Aufmarsch einer Gruppe von Neonazis am Nationalfeiertag auf demgeschichtsträchtigen Rütli zum Anlass, eine gross angelegte Kampagne gegen denRechtsextremismus zu starten.
Die Kampagne
Parallel zu den Diskussionen im Nachbarland Deutschland entsetzen sich seither täglich Politiker,Juristen, Staatsschützer und Rechtsextremismus-Experten in den Medien und verlangenmehrheitlich eine Verschärfung der bestehenden Gesetzgebung. Anders als etwa in Deutschlandkennt die Schweiz keine eigentlichen Strafnormen gegen propagandistische neonazistischeAktivitäten, solange diese nicht unmittelbar rassistisch- diskriminierend formuliert sind oder direkteinen Aufruf zu Gewalttätigkeit enthalten. Die Antirassismus-Norm ist zudem nur bei öffentlichenAnlässen anwendbar, die Verbreitung rassistischer Inhalte in der «Privatsphäre» kann nicht belangtwerden. Die Instrumente des Staatsschutzes werden deshalb heute – zehn Jahre nach derFichen-Affäre – mit umgekehrten Vorzeichen in Frage gestellt.
So meldete sich als erster Bundespräsident Adolf Ogi im Rahmen der gegenwärtigen«Blick»-Kampagne zu Wort. Ogi forderte «alle Demokraten» auf, entschlossen Stellung zubeziehen. Es folgten der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli, der dieAntirassismus-Strafnorm auf die Privatsphäre ausdehnen möchte, und CVP-Ständerat Franz Wicki,der in seiner Funktion als Präsident der Geschäftsprüfungsdelegation der beiden Räte denBundesrat auffordern will, Propaganda-Aufmärsche (wie auf dem Rütli geschehen) unter Strafe zustellen. Gegenüber der «Luzerner Zeitung» kritisierte gleichzeitig der Chef der Bundespolizei, Ursvon Daeniken, die 1998 erfolgte Aufhebung des Propagandabeschlusses, der bis zum Ende desKalten Krieges Rechtsgrundlage zur Beschlagnahmung von Propagandamaterial war. Zudemmöchte der Chefbeamte mehr Personal für die Bekämpfung des Rechtsextremismus. Aus denFerien meldete sich am Mittwoch auch Justizministerin Ruth Metzler, die eine «sorgfältige Prüfungder Antirassismus-Strafnorm» in Aussicht stellte. Einzig die Rechtsextremismus-Experten HansStutz und Jürg Frischknecht gehen davon aus, dass die bestehenden Strafnormen nicht verschärft,sondern lediglich von den kantonalen Behörden konsequenter durchgesetzt werden müssten.
Die Kampagne vermittelt das Bild einer dramatischen Entwicklung des gewalttätigenRechtsextremismus in der Schweiz. Dies stimmt allerdings mit den Zahlen effektiver Vorfällekeineswegs überein. So wurden etwa nach Angaben des stellvertretenden Chefs der Bundespolizei,Jürg Bühler, 1991 insgesamt 77 und im folgenden Jahr 42 Anschläge auf Asylbewerberheimeregistriert. Zwischen 1993 und 1999 bewegte sich die jährliche Zahl solcher Anschläge zwischen 3und 11 und damit quantitativ auf deutlich tieferem Niveau. Aufmerksamkeit verdienen allerdingsqualitative Veränderungen innerhalb der rechtsextremen Szene: Diese wird seit 1992 zunehmendvon jugendlichen Skinheads dominiert. Die Zahl der organisierten Skinheads ist seit 1995 wiederansteigend, und neben Schlag- und Stichwaffen sind neu auch Schusswaffen und Sprengsätze imSpiel. Schliesslich nutzt die Szene in ihrer propagandistischen Tätigkeit zunehmend auch neuetechnische Errungenschaften im Bereich des Internets.
Skinheads – eine Subkultur
Anders als etwa in Deutschland gibt es in der Schweiz keine grossen rechtsextremen Parteien, diedie Infrastruktur für propagandistische Zwecke bereitstellen. Die rechtsextreme Szene isthierzulande fragmentierter und eher lokal organisiert. Seit 1992 dominieren – zumindest was dieBereitschaft zur Gewaltanwendung betrifft – die Skinheads die rechtsextremistische Szene. GemässAngaben von Jürg Bühler bewegten sich vor 1990 kaum 200 Personen in der rechtsextremistischenSkinhead-Szene. Heute geht die Bundespolizei davon aus, dass der organisierte Kern mehr als 700Personen umfasst. Inwieweit diese Zahlen allenfalls auch eine erhöhte Aufmerksamkeit derBehörden reflektieren, ist nicht eruierbar. Jedenfalls scheint der Informationsstand bei derBundespolizei und bei kantonalen Polizeistellen über die Skinhead-Szene ausgebaut worden zusein, anders ist die schnelle Aufklärung etwa im Fall des Anschlags in Bern vom Juli kaum zuerklären.
Die Skinhead-Szene gilt als subkulturelle Bewegung, der sich vor allem junge Männer im Alterzwischen 16 und 25 Jahren anschliessen. Sie trat erstmals in den sechziger Jahren in englischenArbeitervierteln auf, damals allerdings ohne politische Zielsetzungen. In der Schweiz kam eineSkinhead-Szene erst Mitte der achtziger Jahre auf, als Parallelerscheinung zur ebenfalls provokativnonkonformistischen Punkszene, die in den achtziger Jahren als Modetrend zunehmend«kommerzialisiert» und damit für jugendliche Nonkonformisten unattraktiv wurde. Als politischrechtsextremistische Bewegung fielen die Skinheads in der Schweiz – in Abgrenzung gegenüber denals «links» verorteten Punks – erst Anfang der neunziger Jahre auf. Bis dahin organisierte sich diegewaltbereite rechtsextremistische Szene ausserhalb der Skinhead-Bewegung, so etwa inrevisionistischen Kreisen oder in der Fronten-Bewegung (vgl. Kasten).
Äusserlich fallen die Skinheads durch den (Namen stiftenden) kahlrasierten Schädel,Bomberjacken, Springerstiefel und Jeans mit passendem Gürtel auf (die Gürtel vorzugsweise mitkeltischen Symbolen bestückt, dies als Hinweis auf die Überordnung der weissen Rasse). DieVernetzung der Szene und damit auch die propagandistische Aktivität erfolgt vor allem über«private» Skinhead-Konzerte und -Partys. Durch die Nichtöffentlichkeit dieser Anlässe entziehtman sich weitgehend dem Risiko der Strafverfolgung etwa im Zusammenhang mit der Verbreitungrassistisch-diskriminierender Inhalte. Zu regelmässigen Treffen rechtsextremistischerGruppierungen in verschiedenen europäischen Ländern kommt es auch an bestimmten Anlässen wieetwa zum Gedenken an Hitlers Geburtstag, an die Todestage von Mussolini, Franco und RudolfHess oder anlässlich der «Ijzerbedevaart», der traditionellen Wallfahrt der flämischen Patrioten inBelgien. Dazu kommen Sonnenwendfeiern in verschiedenen europäischen Ländern.
Organisationen in der Schweiz
Als eine Art Dachorganisation der Skinheads wirkt der 1990 in Luzern gegründete SchweizerAbleger der, ursprünglich aus den USA stammenden, rechtsideologischen Sammelbewegung«Hammerskins». Die «Schweizer Hammerskins» (SHS) zählen laut Staatsschutzbericht rund 60 bis70 Mitglieder. Die Hammerskins verstehen sich selber als Elite-Organisation mit «Vorbildfunktion»für die Szene und sind stark hierarchisch strukturiert. In der Dokumentation «Skinheads in derSchweiz» der Bundespolizei werden die «Regelungen der SHS» aufgeführt, darunter etwa diefolgende: «Vom Vorstand beschlossene Entscheidungen werden nicht angezweifelt oder hinterfragt,sondern strikte befolgt.» Es wird den Mitgliedern empfohlen, das Symbol der«Hammerskin-Nation» auf die Innenseite des rechten Oberarmes zu tätowieren, und als Zielsetzungder Bewegung wird die Pflicht genannt, «die weissen nationalen Kräfte zu vereinen». ZurRekrutierung von Neumitgliedern wurde 1994 die «SchweizerischeHammerskinheads-Aufbauorganisation» gegründet. Diese Organisation war für den Überfall aufdas «Fest der Völkerfreundschaft» in Hochdorf im Kanton Luzern vom 4. November 1995verantwortlich. Gemäss der Publikation «Rechte Seilschaften» von Peter Niggli und JürgFrischknecht war der damalige Heizungsmonteurlehrling Pascal Lobsiger mit derrechtsextremistischen «Aufbauarbeit» betraut. Lobsiger, der 1998 wegen des Überfalls in Hochdorfnachträglich zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt worden ist, scheint heute wieder aktiv zu sein.Gemäss Pressemeldungen war er beim Aufmarsch der Skinheads am 1. August auf dem Rütlidabei.
Als zweite überregional organisierte und international vernetzte Skinhead-Organisation gilt der 1998in der Schweiz gegründete Ableger der ursprünglich aus England stammenden, neonazistischorientierten «Blood & Honour»-Bewegung, die vor allem in den Kantonen Aargau, Bern,Baselland, Waadt und Zürich auftritt. Der Staatsschutzbericht 1999 nennt eine Reihe weitererregionaler Skinhead-Gruppierungen, so etwa die «Nationale Offensive» aus Bern (Mitgliederndieser Organisation werden die Gewehrschüsse in Bern vom 10. Juli 2000 angelastet), dieOrganisation «Morgenstern» (Luzern), die «Nationale Initiative Schweiz» (Zürich, mitausgearbeitetem, ausländerfeindlichem politischem Programm) oder den «Patriotischen Ostflügel»(Ostschweiz). Dazu kommen weitere, nicht fest organisierte Skinheads, die sich in lokalen Cliquentreffen.
Handwerker und Lehrlinge
Über die soziale Herkunft der jungen Skinheads ist bis heute wenig bekannt gemacht worden. Dochscheint die Anfälligkeit für rechtsextremistisches Gedankengut jugendliche Männer aus allenSchichten zu betreffen. Der Szenenkenner Hans Stutz versuchte auf Grund der Ergebnisse derEinvernahme von 56 Skinheads, die nach der Schlägerei in Hochdorf verhaftet worden sind,Informationen über die soziale Herkunft und Lage der Skinheads zusammenzutragen. Diefestgenommenen Skinheads waren fast ausnahmslos ledig, wohnten zumeist noch bei ihren Elternund in ländlicher oder kleinstädtischer Umgebung und waren – mit zwei Ausnahmen – alle inhandwerklichen Berufen tätig, teilweise noch in der Lehre. Arbeitslos waren nur wenige. Die Hälftewar noch keine 20 Jahre alt, kaum einer war älter als 25 Jahre.
Auch der deutsche Verfassungsschutz versucht den Hintergründen der Gewaltbereitschaft auf dieSpur zu kommen. (In Deutschland gibt es derzeit 114 rechtsextremistische Organisationen, denenrund 53 600 Personen angehören, darunter 8200 gewaltbereite Rechtsextremisten und 2400Neonazis.) Gemäss deutschen Forschungsergebnissen spielen bei jugendlichen,rechtsextremistischen Gewalttätern die fehlende Zuwendung im Elternhaus, niedriger Bildungsgradsowie «Befürchtungen und soziale Ängste» eine wichtige Rolle. Die überragende Betonung desKollektivgedankens («Volksgemeinschaft») bietet den jungen Rechtsextremisten das Gefühl vonZugehörigkeit, Aufgehobenheit, Stärke und Selbstvertrauen. Eine grosse Rolle für die Gewalttatenscheint der kollektive Gruppenzwang zu spielen. Wer sich nicht an den extremistischen Aktionenbeteiligt, wird ausgeschlossen (vgl. Bild).
Neonazistische Propaganda
Die jungen Männer werden meist an Skinhead- Konzerten zum ersten Mal mit rechtsextremistischenInhalten konfrontiert. Hier kann man sich mit Tonträgern von Skinhead-Musik, mit densogenannten «Skinzines» (Fan-Zeitschriften für Skinhead-Musik) sowie mit einschlägigenAccessoires eindecken. Weil diese Konzerte immer als Privatveranstaltungen getarnt werden, habensich die kantonalen Behörden bisher kaum um diesen Graumarkt gekümmert. In der Schweizkonnte bisher erst in einem einzigen Fall rechtsextremistisches Propagandamaterial in grösserenMengen beschlagnahmt werden; dies im März 1999, als im Kanton Neuenburg der«Mjölnir-Versand» ausgehoben wurde. Für die Vernetzung der regional und organisatorischzersplitterten rechtsextremistischen Szene von grösster Bedeutung sind auch dieInfo-Telefonnummern sowie in zunehmendem Masse das Internet.
Im Internet finden sich – ähnlich wie in den «Skinzines» – Hinweise auf Termine von regionalen,nationalen und internationalen Skin-Treffs, es werden Tonträger von Skinhead-Bands vorgestellt,deren Song-Texte abgedruckt, Interviews, Konzert- und sonstige Berichte aus der Szene verbreitetsowie schwarze Listen und sogenannte «Hass-Sites» erstellt, auf denen ungeliebte politischeGegner zum Abschuss freigegeben werden. So wurden in diesem Jahr erstmals auch in derSchweiz Tötungsaufrufe im Internet registriert. Hauptzielscheibe der gewalttätig-extremistischenSkinheads ist alles «Linke» und «Fremde».
Vielfach werden die Homepages über ausländische Provider ins Netz gespeist, womit das Risikoder Strafverfolgung minimiert werden kann. Insbesondere das in den USA praktischuneingeschränkte Recht der freien Meinungsäusserung ermöglicht es Anbieternrechtsextremistischer Sites, über den Umweg amerikanischer Provider (meist) unbestraft denheimischen Markt zu bedienen. Verschlüsselungs- und Anonymisierungs-Technologienermöglichen zusätzlichen Schutz vor Strafverfolgung. – Der technische Fortschritt ermöglicht nichtnur eine quantitative Ausbreitung, sondern auch eine qualitative «Verbesserung» desrechtsextremistischen Angebots. So können heute neben Bildern, Grafiken und Animationen auchakustische Beiträge (beispielsweise MP-3-Tondateien mit Skinhead-Musik) und PC-Spiele mitfremdenfeindlichen oder gewalttätigen Inhalten vom Netz heruntergeladen werden.
Bekämpfung des Web-Rassismus
Zahlen zum Ausmass rechtsextremistischer Homepages liegen in der Schweiz bisher keine vor. Derdeutsche Verfassungsschutz (BfV) geht davon aus, dass sich in Deutschland allein zwischen 1996und 1999 die Anzahl rechtsextremistischer Homepages auf rund 330 verzehnfacht hat. Dazukommen etwa 130 Homepages europäischer und rund 200 Homepages amerikanischerRechtsextremisten. Die genaue Zahl weltweit betriebener rechtsextremistischer Homepages istderzeit allerdings nicht eruierbar. Schätzungen des BfV belaufen sich auf weltweit über 1400einschlägige Sites aus über 30 Staaten.
Die Frage der Möglichkeiten zur Bekämpfung dieses Web-Rassismus ist bis heute ungeklärt. DieBundespolizei hat zusammen mit anderen interessierten Bundesämtern und verschiedenenInternet-Providern eine «Kontaktgruppe» gegründet, um die «schwierigen rechtlichen undtechnischen Rahmenbedingungen» abzuklären, die eine Sperrung rechtsextremistischer Websites,die über ausländische Provider ins Netz gespeist werden, ermöglichen würden. Ein Arbeitspapierdieser Kontaktgruppe ging Mitte letzten Jahres in die Vernehmlassung, die Fragen bleibenkontrovers (NZZ 3. 3. und 19. 5. 2000). In einem ergänzenden Gutachten bejahte allerdings dasBundesamt für Justiz eine subsidiäre Verantwortlichkeit der Provider. Die internationale Dimensionder Problematik bekam der Schweizer Provider Cablecom im Juli dieses Jahres zu spüren, als dasBundesamt für Polizei einen von der Cablecom beherbergten Zugang zu einer deutschen Websitesperren lassen musste. Diese hatte Links zu 13 deutschen Neonazi-Gruppen angeboten.