Glatzen, Gewalt und bisweilen gemischte Gefühle

TagesAnzeiger

Was geht bei Schlägereien in den kahl geschorenen Köpfen vor? Nicht viel, sagen zwei Aussteiger aus der rechtsextremen Szene. Doch irgendwann beginne das Grübeln.

Von Thomas Knellwolf, Aarau

Der eine sitzt im Bahnhofbuffet Olten, hat stämmige Armen voller Tattoos, flinke Augen und trägt einen Dreitagebart, der mehr als drei Tage lang keinen Rasierapparat mehr gesehen hat. Der andere hat die Augenbrauen halb wegrasiert, Schalk in den Augen und lässt ab und zu einen Kontrollblick durch das Restaurant beim Aarauer Bahnhof schweifen. Als die beiden jungen Männer vergangenes Wochenende von den Massenschlägereien mit rechtsradikalen Beteiligten hörten, erwachten die Erinnerungen an eigene unschöne Erlebnisse.

Als Philipp Frei aus Dulliken bei Olten 13 Jahre alt war, schlossen sich Pfadfinderkameraden einer rechtsextremen Clique an. Aussenseiter Philipp, der nicht weiter Einzelgänger sein wollte, tat alles, um dabei zu sein. Patrick Sandmeier stiess mit 16 Jahren durch den Bruder eines Freundes zu den Rechtsextremen: In Turnschuhen, Jeansjacke und mit Gel im Haar erlebte der Verkäuferlehrling sein erstes Fest zwischen lauter kahl rasierten Köpfen. Noch bevor er ins Bett ging, rasierte auch er sich die Haare ab. Bald darauf gründete der Teenager Patrick mit Kollegen eine frontistische Gruppierung im Freiamt. Als Ältester war er eine Art Führer, hatte gemäss eigener Aussage «eine grosse Klappe» und war ein Provocateur.

Glatze, Bomberjacke und Springerstiefel gehörten vier Jahre lang zum Outfit von Philipp Frei und Patrick Sandmeier. Schlägereien waren eine häufige Freizeitbeschäftigung. «Was sich im Aargau vergangenes Wochenende ereignete, ähnelt sehr den Taten, die wir früher begangen haben», sagt Frei, welcher der rechtsextremen Szene vor fünf Jahren den Rücken kehrte.

Für Patrick Sandmeier, der ein Jahr später den Entschluss zum Ausstieg fasste, ist die Welle der Gewalt «kein Zufall»: «Wenn Baseballschläger und Eisenstangen zum Einsatz kommen, taugen Langeweile oder übermässiger Alkoholkonsum nicht als Erklärung.» Sandmeier vermutet hinter den jüngsten Taten Jugendliche aus regionalen rechtsextremen Zusammenschlüssen. Zusammenschlüssen wie damals im Freiamt und in Dulliken.

Brandbomben im Wald

Philipp Frei, der unbedingt dabei sein wollte, war in Dulliken bald immer und überall dabei – in der Beiz, die zum Szenetreff avancierte, bei den Grill- und Saufgelagen im nahen Wald oder im Fanblock des Eishockeyclubs Olten. Als Jüngster im Rechtsextremenkreis war er «eine Art Maskottchen» und «ein Mitläufer», wie er sagt – und als Gymnasiast eine Ausnahme. Um zu imponieren, tätowierte er sich den linken Oberarm, trank Alkohol bis zum Umfallen, machte bei Schlägereien mit.

In seinem Zimmer hing eine Fahne mit Reichsadler. Und daheim fertigte er Flugblätter an, die zur Gründung der «White Power Skins» aufriefen. Sein Vater konfiszierte aber das Material, womit die Gruppe verschwand, bevor sie zu existieren begann. «Zum Glück blieben wir meist Maulhelden», sagt Frei. So schleuderte seine Gruppe die Molotow-Cocktails nicht auf Ausländerunterkünfte, sondern auf Dulliker Tannen.

«Wenn aber ein Kamerad eine Schlägerei anzettelte, mussten alle mitmachen», erklärt Frei. Er hielt sich allerdings – wann immer möglich – im zweiten Glied. Auch Patrick Sandmeier sagt: «Wenn es hart auf hart ging, bewegte ich mich eher im Hintergrund.» Bis auf einmal, als Sandmeier ein Opfer schwer verletzte. Eine Tat, die ihm heute leidtut. Die Polizei wurde auf Sandmeier aufmerksam, und der Täter entschuldigte sich fadenscheinig. Darauf sah das Opfer von einer Anzeige ab.

«Die Folgen unserer Gewalt haben wir kaum je überlegt», sagt Sandmeier, «es war für mich normal, dass einer am Boden liegt und blutet.» Das Ritual war Wochenende für Wochenende: Treffen mit Kameraden, Saufen, irgendwo ein Neonazi-Konzert oder ein Fest, später in der Nacht Provokationen, dreinschlagen und schnell abhauen. «Zwar war jeweils nicht alles durchgeplant», sagt Sandmeier. «Doch wenn wir ausgingen, kalkulierten wir ein, dass es knallt.» Ein falsches Wort oder ein falscher Blick von «Ausländern, Kiffern und Linken» genügten, und es gab Prügel von der Front aus dem Freiamt.

Der Dulliker Rechtsextremenkreis machte bisweilen gezielt Jagd. Einmal fuhr Freis Gruppe mit abgedecktem Nummernschild bei einer Bushaltestelle vor, wo sich ausländische Jugendliche trafen. Zwei ältere, vorbestrafte Kameraden sprangen aus dem Auto und schlugen zu. Verletzt liegen blieb ein junger Albaner. Er war der beste Primarschulfreund Freis gewesen. Bei Frei, der den Überfall aus dem Auto verfolgte, hinterliess der Überfall mehr als die gemischten Gefühle, die er oft nach Gewalttaten hatte. Es blieb eine tiefe Nachdenklichkeit. Ein langer Loslösungsprozess von der Szene begann.

Endstation Rütli

Patrick Sandmeiers brauner Weg endete – wie er heute sagt – auf dem Rütli: «Als ich das erste und letzte Mal dorthin an eine 1.-August-Feier ging, hatte ich innerlich schon mit der Szene gebrochen.» Der massierte Aufmarsch der Rechtsextremen auf der Wiese am Vierwaldstättersee habe ihn zwar noch einmal fasziniert. Doch gleichzeitig habe er sich gefragt, was er hier überhaupt mache. Ein Pressefotograf erwischte den Moment, als Patrick Sandmeier eines der letzten Male die Hand zu einem neonazistischen Gruss reckte und «Heil dir Helvetia» grölte.