Mythos mit Aufmarsch

WochenZeitung

1. August · Nur noch die Rechtsextremen wollen aufs Rütli.
Von Hans Stutz
Die Situation war neu für Schweizer PolizistInnen. Anfang Juni 2006, bei einem Naziskinkonzert in Beinwil im aargauischen Freiamt wollten die Veranstalter nicht mit der Polizei kooperieren. Die Aargauer Kantonspolizei nahm den Fehdehandschuh auf und kontrollierte Stunden später mit verstärktem Aufgebot die Personalien aller Anwesenden. Rund 35 Personen hätten, so die spätere Polizeimeldung, «passiven Widerstand» geleistet und sich «äusserst aggressiv und gewaltbereit» gezeigt. Plötzlich probten Schweizer Rechtsextremisten die offene Konfrontation mit den uniformierten VertreterInnen der Staatsmacht. Dies wenige Wochen vor ihrem jährlichen Rütli-Aufmarsch.
1996 machten sich erstmals einige Naziskins auf dem Rütli bemerkbar. Seither kamen jedes Jahr mehr RechtsextremistInnen zur Bundesfeier auf der Wiese am Vierwaldstättersee. Die Organisatorin, die Rütlikommission der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, schaute weg. Im Jahr 2000 waren es dann rund hundert. Sie buhten Bundespräsident Kaspar Villiger aus. Die Medien berichteten ausführlich. Die Rütlikommission hingegen erklärte verharmlosend, die Neonazis seien doch eine verschwindend kleine Minderheit gewesen. Im vergangenen Jahr gehörte knapp die Hälfte der BesucherInnen zu jenen, die den Redner Samuel Schmid niederschrien. Nun musste die Rütlikommission einsehen, dass es inzwischen darum ging, ob man den Rechtsextremisten am 1. August das Rütli ganz überlassen wollte oder nicht. Die Laisser-faire-Politik der Kommission hatte bereits weitere Begehrlichkeiten geweckt. Jene der Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) etwa, die dieses Frühjahr befand, die Kommission habe es wieder verpasst, «eine Bewegung, die mittlerweile einen Grossteil der Rütlibesucher stellt, in die Feier einzubinden». Im Klartext: einen rechtsextremistischen Redner zuzulassen.
Im Januar 2006 verkündete die Rütlikommission, dass in diesem Jahr BesucherInnen der Bundesfeier nur mit einem Ticket auf die Wiese gelassen würden und dass man Rechtsextremisten fernhalten wolle. Die Reaktion kam unverzüglich: Auf der Website «848»- (848 steht für Heil-dir-Helvetia) war etwa Folgendes zu lesen: «Die offizielle Bundesfeier auf dem Rütli ist ein nationales Symbol. Entweder wir finden einen Weg oder wir machen einen! Wenn immer die heilige Schwurnacht sich jährt … Wir werden da sein mit und ohne Ticket! Niemand wird uns stoppen!» Die «848»-Site behauptet, sie vertrete einen «Zusammenschluss von über 130 grösseren und kleineren patriotischen Vereinigungen». Diese Angaben lassen sich nicht überprüfen – als Betreiber der Site ist ein Ramnaath Sivasanga, wohnhaft in Milpitas/Kalifornien, registriert.
Nicht stattgefunden haben die «Dialogversuche», von denen sowohl bei der PNOS wie auch auf der «848»-Site die Rede ist. Diese Aussagen seien ihm «ein Rätsel», erklärt Herbert Ammann, Geschäftsführer der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und Mitglied der Rütlikommission, auf Anfrage. Er kann sich nur an einen Herrn «Träsch oder Tresch oder ähnlich» erinnern, der irgendwann im März angerufen habe und 1200 Billette bestellen wollte, für «Skinheads und so». Bis Redaktionsschluss ist weder der Besammlungsort der rechtsextremen Szene noch ein Zeitpunkt ihres Eintreffens bekannt. Das momentan wahrscheinlichste Szenario ist ein grosser Rechtsextremistenaufmarsch in Brunnen oder in Seelisberg oder auch an beiden Orten. Neonazis und militante Nationalisten werden auf vielerlei Arten versuchen, auf das Rütli zu gelangen. Eine Konfrontation ist absehbar, sofern die Polizei das angekündigte Zutrittsregime tatsächlich durchsetzen wird. Zur Erinnerung: Im vergangenen Jahr haben die Schwyzer Behörden bis zum letzten Moment behauptet, dass sie keinen Rechtsextremistendurchmarsch durch Brunnen tolerieren würden, um sich dann unversehens eines anderen zu besinnen. Auf jeden Fall wird dieses Jahr ein sehr grosses Polizeiaufgebot zusammengezogen.
Weitere Szenarien sind denkbar: Die Rechtsextremisten begehen ihre Feier auf dem Rütli einen Tag oder zwei Tage vor dem offiziellen Anlass, oder sie weichen am 1. August auf einen anderen Ort aus, der die patriotischen Gemüter erregt, beispielsweise die Schlachtgelände von Sempach oder Morgarten.
Was auch immer am kommenden 1. August passiert, die Diskussionen über den Sinn der Rütli-Bundesfeier werden weitergehen. Immer offensichtlicher wird: Für diesen Patriotenklamauk – basierend auf Versatzstücken der Sonderfall-Schweiz – lassen sich kaum noch Bürgerliche (und schon gar nicht Linke) mobilisieren. Die Zahl der bestellten Tickets sei «enttäuschend tief», sagt Herbert Ammann. Er hofft auf bereits zugesicherte Bestellungen, insbesondere von Vereinen. ·