Neonazi-Opfer Noël Martin will sich in der Schweiz das Leben nehmen
Paola Carega, Berlin
Seit einem Anschlag deutscher Rechtsextremer ist Noël Martin vom Hals an gelähmt. Der Brite hat lange um ein würdevolles Dasein im Rollstuhl gekämpft. Im Juli will er in der Schweiz aus dem Leben scheiden.
Der 48. Geburtstag soll sein Todestag sein. So wünscht es sich Noël Martin. Der Brite wird dafür in die Schweiz reisen und mit Hilfe der Organisation «Dignitas» seinem Leben ein Ende setzen. Denn passive Beihilfe zum Suizid, wie sie in der Schweiz möglich ist, steht in den meisten Ländern Europas unter Strafe, so auch in Grossbritannien und Deutschland.
Am 23. Juli ist es so weit. Erst soll es ein letztes Fest mit seinen Freunden geben; danach will Noël Martin in der Schweiz den tödlichen Medikamentencocktail durch einen Strohhalm einnehmen. Seinen Freitod hat der gebürtige Jamaikaner schon vor Längerem angekündigt; zuletzt in seiner Autobiografie, die nun erschienen ist*.
«Ich lebe nicht mehr, ich existiere nur noch. Die Verantwortung dafür, wann Schluss sein soll, ist das Einzige, was mir geblieben ist», sagt er. Zu viel sei ihm genommen worden: die Würde, die Liebe, die Empfindungen. Seit elf Jahren ist Noël Martin vom Hals an gelähmt. Zwei rechtsextreme Jugendliche aus dem brandenburgischen Mahlow hatten einen Anschlag auf ihn verübt.
Martin gehörte damals zu den rund 80 000 Vertrags-Bauarbeitern aus Grossbritannien, die in den Neunzigerjahren in Deutschland den Aufbau Ost vorantrieben. Martin lebte und arbeitete seit eineinhalb Jahren als Verputzer in der kleinen Gemeinde im Südosten von Berlin ? einer Gegend, die bekannt ist für ihre rechtsextreme Szene.
Gewissenlose hetzjagd. Am Abend des 16. Juni 1996 brüllen ihm Neonazis am Bahnhof «Nigger ? Nigger» hinterher. Gelassen kontert Martin, ob ihnen nicht etwas anderes einfalle. Der Brite ist solche Anmache gewohnt. Angst hat er keine. Auf dumme Sprüche wie «Afrikaner raus» antwortet er jeweils mit der Bemerkung, dass er nicht Afrikaner, sondern Jamaikaner sei. «Man muss lernen, über die eigenen Ängste zu lachen, wenn man überleben will», hat Martin seinen Freunden oft gesagt. Doch dieses Mal kommt alles anders.
Als Martin mit seinem Auto davonfährt, verfolgen ihn zwei Rechte in einem gestohlenen Wagen. Sie drängen ihn von der Fahrbahn ab und werfen einen Stein durch die hintere Seitenscheibe. Martin verliert die Kontrolle über sein Fahrzeug und rast gegen einen Baum. Als er aus dem Koma erwacht, sagen ihm die Ärzte, dass er sich die Wirbelsäule gebrochen hat. Der 36-Jährige wird nie mehr Arme und Beine bewegen können.
Mehr als einen Monat liegt Noël Martin in Deutschland im Spital. Seine Lebensgefährtin Jacqueline verbringt Tag und Nacht an seinem Bett. «Wirst du mit der Querschnittslähmung fertig werden?», fragt sie ihn. Die beiden schliessen einen Pakt: Zehn Jahre, so verspricht Noël Martin, will er sich geben, um mit dem Leben im Rollstuhl klarzukommen.
Endloses Martyrium. Als er transportfähig ist, kehren die beiden nach England zurück, wo ein Martyrium in maroden britischen Krankenhäusern beginnt. Später pflegt ihn Jacqueline zu Hause in Birmingham. Der Alltag ist ein fortwährender Kampf. Martins Körper spielt seit dem Unfall verrückt. Ist es heiss, friert ihn, ist es kalt, schwitzt er literweise Wasser. Immer wieder hat der körperlich einst topfitte Mann Geschwüre, verliert an manchen Tagen bis zu einem halben Liter Blut. Vier Stunden braucht Jacqueline jeden Morgen, um ihren Partner zu waschen, anzuziehen und ihm Frühstück zu geben. Hinzu kommt der Streit mit den britischen Behörden um Pflegeunterstützung.
Von Deutschland erhält Martin Entschädigungszahlungen und eine Rente. So kann er ein Spezialbett und einen Elektrorollstuhl kaufen. Mit Druckknöpfen an der Kopfstütze und einem Joystick, den er mit einem Muskel der rechten Schulter aktiviert, bedient er Fernsehen und Telefon.
1999 erkrankt Jacqueline an Krebs. Ein Jahr später stirbt sie; noch an ihrem Sterbebett geben sich die beiden das Ja-Wort, nach 18 Jahren als Paar. «Mit ihr habe ich den Schlüssel zum Glück verloren», sagt Noël Martin der Zeitung «Märkische Allgemeine». Der Rassismus habe ihm nun alles genommen. Trotzdem kämpft er weiter.
Zum fünften Jahrestag des Anschlags kehrt er sogar nach Mahlow zurück. Das öffentliche Interesse ist riesig, schon am Flughafen wartet die Presse. Am nächsten Tag organisiert das Netzwerk «Tolerantes Mahlow» eine Kundgebung gegen Rassismus, die Martin im Rollstuhl anführt. Im Beisein des damaligen Ministerpräsidenten von Brandenburg, Manfred Stolpe regt Noël Martin einen Austausch zwischen Jugendlichen aus Brandenburg und seiner Heimatstadt Birmingham an. Jungen und Mädchen soll die Möglichkeit gegeben werden, Kontakte zu Ausländern zu knüpfen und Vorurteile zu überprüfen. Fortan unterstützt das Land Brandenburg den «Noël- und Jacqueline-Martin-Fonds». Rund hundert Jugendliche aus Mahlow und Umgebung hatten bisher die Möglichkeit, Martins Heimatstadt zu besuchen und sich ein Bild von anderen Kulturen zu machen. Die Einnahmen aus dem Verkauf seiner Autobiografie kommen ebenfalls der Stiftung zugute.
Keine Reue. Die beiden Täter, die als Motiv unverhohlen Fremdenhass angaben, erhielten fünf und acht Jahre Haft. Beide sind längst wieder frei, Reue gezeigt oder sich gar entschuldigt haben sie nie.
Inzwischen ist es Noël Martin egal ? der tatkräftige Mann ist müde geworden. Vor einem Jahr kündigte er erstmals an, freiwillig aus dem Leben scheiden zu wollen. In einem Fernsehinterview versucht er, seinen Entschluss zu erklären: «Wenn du nicht fühlen kannst, kannst du die Welt nicht berühren. Und wenn du sie nicht berühren kannst, kannst du nur zusehen, wie sie vorüberzieht.»
In Deutschland sind viele Menschen betroffen von seinem Suizidwunsch. Journalisten bitten um Interviews, das Telefon steht nicht mehr still. Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck spricht bei einem Londonbesuch mit ihm. «Brandenburg braucht Sie. Sie sind eine Inspiration für uns» soll er gesagt haben. Doch Noël Martin ist nicht mehr umzustimmen. Er beginnt Abschied zu nehmen, sorgt dafür, dass die Arbeit seiner Stiftung auch nach seinem Tod weitergeht.
Bücher für Schulen. Als sein Buch in der Staatskanzlei Potsdam vorgestellt wurde, hielt Ministerpräsident Platzeck die Einführungsrede. Das Land Brandenburg will 500 Bücher erwerben, um sie an Schulen zu verteilen. Noël Martin, der inzwischen ans Bett gefesselt ist, schickte eine Botschaft per Video. «Ich danke allen, die sich die Zeit genommen haben, mit mir gegen Fremdenfeindlichkeit zu kämpfen», so sein letzter Gruss nach Brandenburg. Noch etwas über 60 Tage, dann hat er es geschafft.
Noël Martin: «Nenn es: mein Leben», 250 Seiten, von Loeper Literaturverlag, Karlsruhe 2007, ISBN 978-3-86059-332-5