«Rufst du, mein Vaterland?» Die Karriere eines Liedes – von der Nationalhymne zum Kampfmittel der Rechten
Die Rechte liebt die alte Landeshymne «Rufst du, mein Vaterland?» Die Solothurner Schweizer Demokraten singen das Lied. Und es gehört nachweislich auch zum Repertoire rechtsradikaler Gruppen. Eine seltsame Liederkarriere.
UELi wild
Dass an einem Parteianlass gesungen wird, ist hierzulande – zumindest heutzutage – ungewöhnlich. Bei der Neu-Gründung der Schweizer Demokraten im Kanton Solothurn war dies indessen der Fall. Die Initianten hatten den Text von «Heil dir, Helvetia» (bzw. «Rufst du, mein Vaterland») aufgelegt. «Zur Eröffnung liess Versammlungsleiter Patrick Müller stehend alle vier Strophen singen, was auch fraglos geschah. Offensichtlich sangen die 20- bis 30-jährigen Männer und Frauen die vor über 40 Jahren vom Bundesrat ausser Dienst gestellte Nationalhymne nicht zum ersten Mal.» (OT, 06. 03. 2006)
Gemeinschaftliches Singen schafft eine gemeinsame Identität, ein «Wir»-Gefühl, das über den Sinn der Worte hinaus geht und diesen sozusagen dem ganzen Körper, sprich nicht bloss dem Hirn, einverleibt. Das mag erklären, weshalb das Häufchen der sich klar rechts von der SVP ansiedelnden Schweizer Demokraten dem Gesang frönt. Auch auf der Linken diente früher der Gesang der emotionalen Festigung des Kollektivs. Weshalb aber singen junge Menschen ausgerechnet ein so altes Lied?
1961 bzw. 1975 «pensioniert»
Dass eine das nationale Element betonende Bewegung die Nationalhymne singt, ist nachvollziehbar. Nur handelt es sich bei «Rufst du, mein Vaterland?» just nicht um die Schweizer Nationalhymne – nicht mehr jedenfalls. 1961 erfolgte die Ablösung durch den «Schweizerpsalm» («Trittst im Morgenrot daher»), der nach einem 14-jährigen Provisorium 1975 definitiv zur Nationalhymne erklärt wurde. Nicht dass damit ein dem Zeitgeist entsprechendes Lied ausgewählt worden wäre: Der Text der heute noch aktuellen Landeshymne wurde 1840 vom Zürcher Leonhard Widmer verfasst und dem Graduale einer vierstimmigen Messe des aus dem Kanton Uri stammenden Wettinger Zisterzienserpaters Alberich Zwyssig aufgepfropft.
1811 entstanden
Die alte Hymne entstand drei Jahrzehnte früher, 1811, im Rahmen des schweizerischen Artillerielagers in Bern. Als Verfasser zeichnete Johann Rudolf Wyss, Professor der Philosophie an der Berner Akademie. Die Melodie wurde der englischen Nationalhymne «God save the King» entlehnt – etwas, das in Preussen schon 1793/94 unter dem Titel «Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands» geschehen war. In «Rufst du, mein Vaterland?» drückte sich «das neue nationale Empfinden in einer Sprache aus, die dem Bedürfnis der Zeit (…) entsprach». Die Hymne evozierte «die wesentlichen Elemente schweizerischer Identität, die heldische Vergangenheit, die neue Wehrhaftigkeit, den alpinen Mythos und die Tellenfreiheit». Das Nationallied «stand für die Erkenntnis, dass es zur Erhaltung der Freiheit – was immer man auch darunter verstand – eines Verteidigungswillens und der entsprechenden Wehrkraft bedurfte» (Ulrich Im Hof, Mythos Schweiz, Zürich 1991).
Mit «Steh’n wir den Felsen gleich» betonte die alte Landeshymne das eigene Wehrvermögen. Die neue dagegen trägt eher religiöse Züge: «Betet, freie Schweizer, betet!», heisst es hier. Und: «Ja, die fromme Seele ahnt: Gott im hehren Vaterland.» Der Segen, der auf der Nation liegt, stammt hier mehr von einer höheren Macht und resultiert damit weniger aus der Schweizer Wehrhaftigkeit. In politisch akzentuiert rechts stehenden Kreisen – das zeigen auch Eintragungen in entsprechenden Websites – wird deshalb praktisch durchwegs der «alten Hymne», die auch von den Solothurner Schweizer Demokraten in Dulliken gesungen wurde, der Vorzug gegeben.
Kampfmittel der Rechtsextremen
Von den Rechtsradikalen wird «Rufst du, mein Vaterland?» denn auch aktiv und bewusst eingesetzt. Wiederholt diente das Absingen des Liedes in den letzten Jahren zu den Störmanövern an der 1.-August-Feier auf dem Rütli. Nach seiner Rede wurde Samuel Schmid, der Bundespräsident 2005, von den Sicherheitskräften von der Bühne gebracht – noch bevor die Versammlung die Nationalhymne («Trittst im Morgenrot daher» – red.) anstimmen konnte. Die Hymne wurde von den Skinheads mit der alten Nationalhymne «Heil dir Helvetia» («Rufst du, mein Vaterland?» – red.) niedergeschrien (Tages-Anzeiger Online, 01. 08. 2005).
Im Internet erscheint «Rufst du, mein Vaterland?» übrigens wohl nicht zufällig auch bei den Liedertexten der – zumindest in ihrer Frühzeit – rechtsextremes Gedankengut verbreitenden deutschen Punk-Rock-Band Böhse Onkelz. Auf der Suche nach einem Album, das den Song enthält, wird man indessen bei der Durchsicht der im Internet greifbaren Diskographien der Band nicht fündig.
Interessant ist jedoch, in welcher Form der Text unter den «Böhse-Onkelz»-Lyrics auftaucht: vierstrophig nämlich. In Wirklichkeit umfasst das Lied sieben Strophen. Vergleicht man die amputierte «Onkelz»-Version mit jener, die das Corpus «Lieder für Schweizerjünglinge» (herausgegeben vom Zofinger Verein Schweizerischer Studierender, Bern 1825) enthält, stellt man fest, dass die besonders martialischen Strophen eins, zwei und sechs sowie die das kriegerische Element schliesslich doch noch relativierende siebte Strophe übrig geblieben sind. Die «sanfteren», sich teils eher an Mutter Helvetias Brust anschmiegenden Strophen drei und vier, aber auch die fünfte, fehlen dagegen.
Genau die gleichen drei Strophen fehlten auf dem Blatt, das bei der Gründungsversammlung der Solothurner Schweizer Demokraten auflag. Oder anders gesagt: Die Solothurner Schweizer Demokraten sangen die gleichen vier Strophen wie – gegebenenfalls – die «Böhsen Onkelz». Allerdings haben sie ihre Version dennoch nicht (direkt) von den «Onkelz» bezogen, denn im Gegensatz zu deren Version enthält jene der Solothurner SD zwei sinnentstellende Fehler, die Zweifel daran aufkommen lassen, dass die jungen Leute den Text von A bis Z verstanden haben. Statt «Frei, wer die Heldenbahn steigt als ein Tell hinan», liest man bei ihnen «Frei, wer als Heldenbahn, steigt als ein Tell hinan). Und statt «Doch wo der Friede lacht nach der empörten Schlacht», heisst es bei ihnen «Nacht der empörten Schlacht».
Identisch auf deutscher Website
Falsch abgeschrieben, könnte man vermuten. Stimmt aber nicht: Im Internet findet man mindestens eine, aber unserer bisherigen Kenntnis nach nur eine einzige Homepage, auf welcher der Text vierstrophig und mit genau diesen beiden Fehlern wiedergegeben wird. Eine im Net herumgeisternde falsche Version kopiert, muss der Befund daher lauten. Die betreffende Adresse lautet www.deutsche-schutzgebiete.de und wird betreut von einem Ralph Anton in Blankenhain, Deutschland. Mit den «Deutschen Schutzgebieten» sind die früheren deutschen Kolonien gemeint. Die Homepage war denn auch gemäss Selbstdeklaration ursprünglich nur als Internet-Site über die ehemaligen deutschen Kolonien geplant. Antons Interesse gilt aber dem Deutschen Reich von 1871 bis 1918 allgemein – also dem «Zweiten Reich», dem wilhelminischen Kaiserreich. «Diese Homepage», so ihr Betreiber, «stellt in zeitgenössischen Postkarten und Texten das Deutsche Reich von 1871 – 1918, seine Kolonien, die Kaiserliche Marine, die Donaumonarchie Österreich-Ungarn und die Schweizer Eidgenossenschaft dar, so wie es damalige Chronisten selbst erlebt und gesehen haben.» Ein leicht skurriles, sich im Wesentlichen auf den deutschen Sprach- bzw. Kulturraum fokussierendes Sammelsurium. Anton betont jedoch: «Ich will nicht die gute alte Zeit heraufbeschwören, noch wünsche ich mir die Monarchie in Deutschland zurück.» Unter dem in gotischen Lettern gehaltenen Titel «Schweizer Eidgenossenschaft» führt er im Übrigen sowohl die alte wie die neue Schweizer Landeshymne auf.
Gute alte Zeit?
Die Affinität der Solothurner SD zu «Rufst du, mein Vaterland?» mag Verschiedenes bedeuten. Mit grosser Wahrscheinlichkeit aber durchaus eine Rückbesinnung auf eine (nach aller geschichtlicher Erfahrung) unwiederbringlich vergangene «gute alte Zeit». Die Zeit von 1811 bis 1961 also, ist man versucht zu sagen, jene 150 Jahre, in denen die «alte» Hymne gültig war. Nur, was war das für eine Schweiz? Eine Schweiz jedenfalls, die sich fundamental wandelte – von der anfänglichen Fremdbestimmung durch das napoleonische Frankreich über Restauration und Regeneration hin zur Schaffung des Bundesstaates und zur sukzessiven Weiterentwicklung desselben im 20. Jahrhundert. Kommt dazu, dass die von Wyss 1811 verwendeten Bilder ein gerüttelt Mass – damals noch identitätsstiftenden – an Mythen reichen martialischen Schwulstes enthalten, der für die Mehrheit der heutigen Schweizerinnen und Schweizer nicht mehr nachvollziehbar ist.
Ob man will oder nicht – das Absingen solcher Lieder erweist sich als Anachronismus, der Fundamentalisten, die blutig ernst meinen, was sie singen, das Gefühl des Besonderen, aber zwingend auch des nicht verstanden und des ausgegrenzt Werdens vermittelt. Und nebenbei: «Rufst du, mein Vaterland?» gibt die nationalen Empfindungen in einer Eidgenossenschaft wieder, die – anders als die heutige – überhaupt nicht souverän war. 1811, als Wyss den Text verfasste, hatte er konkret die Schweiz der Mediationszeit vor sich, die in Tat und Wahrheit ein französisches Protektorat war, das Napoleon Truppen stellen musste. «Schutzgebiet» lautet der deutsche Begriff dafür …